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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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sie. »Jetzt wünsche ich mir beinahe, ich müsste nicht nach New York. Ich bin froh, dass wir darüber geredet haben. Ich komme morgen zurück, und ich verspreche dir, dass ich dein Tagebuch nicht lesen werde. Großes Ehrenwort, Quinn. Egal, was passiert.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich und wahrhaftig. Und noch etwas, Quinn – ich weiß, dass es deiner Mutter lieber wäre, sie hätte es nicht gelesen.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Weil ich sie kenne. Ihr Mutterinstinkt war so überwältigend, dass er ihren Blick dafür trübte, wie Mädchen in deinem Alter sind. Sei ihr deswegen nicht mehr böse. Sie hat dich so sehr geliebt, dass sie nicht anders konnte.«
    »Ich wünschte, sie wäre hier, dann könnte ich es von ihr selbst hören«, flüsterte Quinn.
    »Ich auch«, sagte Dana in ihre Zöpfe hinein.
     
    Sobald sie in den Zug stieg, hatte Dana das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein. Ihre Mutter und die Mädchen hatten sie zum Bahnhof gebracht und standen auf dem Bahnsteig vor dem kleinen blauen Haus, um ihr nachzuwinken. Ihre Mienen waren so ernst, als wollten sie gleich weiße Spitzentaschentücher schwenken, um einen Soldaten zu verabschieden, der in den Krieg zog.
    Als der Zug abfuhr und nach Westen brauste, spürte Dana, wie die Last der Verantwortung für ihre beide Nichten schlagartig von ihr abfiel. Sie war wieder eine allein stehende, weit gereiste Malerin, ließ die Enge und Zwänge der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, und des Vorstadtlebens hinter sich. Der Zug hatte eine Klimaanlage. Draußen, in den Marschen von Connecticut, stieg die Luft dampfend auf. Es herrschte gerade Ebbe, und Krebse krochen durch den Schlick. Reiher suchten Unterschlupf in den Schatten. New Haven und Bridgeport waren eine Brutstätte für Dramen, die sich am Rand der Autobahnen und Schienen abspielten. Obwohl der Zug in rasender Geschwindigkeit an der Landschaft vorüberglitt, nahm Dana alles wahr.
    Sie stieg an der Penn Station aus. Statt ein Taxi zu nehmen, fuhr sie mit der U-Bahn: Linie Drei, bis zur 14th Street. Sie schlenderte an den imposanten Stadtwohnungen aus Backstein vorbei, die 12th Street entlang, die in den Stadtteil West Village führte. Da sie noch viel Zeit hatte, die sie irgendwie totschlagen musste, setzte sie sich in ein Café an der Ecke West 4th und West 11th. Die Fotos an der Wand waren in der Bretagne aufgenommen, und als sie ihren Espresso trank, hatte sie plötzlich Heimweh nach Frankreich.
    Bei ihrem Bummel durch das Village schaute sie sich die Schaufenster und die Leute an. Das war eine Gewohnheit, zu der sie problemlos zurückfand, ein Bestandteil ihres alten Lebens: Sie hatte sich in die Welt versenkt, sich Einzelheiten aus dem Alltag zunutze gemacht, die ihre Malerei inspirierten und ihre Kreativität entfachten.
    In einem kleinen Laden, der ausschließlich Mobiles verkaufte, entdeckte sie eines mit Meerjungfrauen: fünf lächelnde Meerjungfrauen, die durch die Lüfte schwebten, mit langen, wehenden Haaren. Dana löste sich abrupt von dem Schaufenster. Sie hatte heute keine Lust, an Hubbard’s Point, das Meer oder an eine ihrer Meerjungfrauen aus Fleisch und Blut zu denken.
    Sie überquerte die Houston Street; dahinter begann SoHo. Dieses Stadtviertel erwachte erst am späten Vormittag zum Leben. Die Cafés begannen gerade, sich zu füllen. Der Anblick versetzte Dana einen Stich: Sie war immer eine Frühaufsteherin gewesen, aber Jonathan hatte es geliebt, lange zu schlafen und erst gegen zwölf Kaffee und Croissant in ihrer
boîte
um die Ecke einzunehmen. Sie beschleunigte ihren Schritt.
    Läden und Restaurants gab es hier in Hülle und Fülle. SoHo hatte sich im Lauf der Jahre verändert. Als sie an der RISD studiert hatte, war es ein Szeneviertel der Künstler und Literaten gewesen, die Lofts in den imposanten alten ›Cast-Iron‹-Gebäuden bewohnten. Lily und sie hatten in Betracht gezogen, sich für das AIR -Programm zu bewerben, das Künstlern für einen begrenzten Zeitraum Wohn- und Atelierraum zur Verfügung stellt, und ihr Glück in der Metropole zu versuchen.
    Stattdessen hatten sie sich auf einer Insel, Martha’s Vineyard, niedergelassen. Doch noch heute spürte Dana den Sog von Downtown New York. Die Stadt war energiegeladen, Heimat für Künstler von ihrem Schlag, aber das Meer würde stets den Sieg davontragen, wenn sie sich entscheiden müsste. Victoria deGraff, die Besitzerin der Galerie, die Danas Werke repräsentierte und mit ihr befreundet war, wusste das. Sie

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