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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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die ganze Sonnenuhr aus ihrem rissigen Fundament. In dem darunter befindlichen Loch lag Lilys Tagebuch.
    In dicke Plastikfolie gewickelt, hatte es in seiner Grabkammer die Zeit überdauert. Dana zog es heraus und presste es an sich, den Schlüssel in der Hand, während der Regen ihre Tränen wegspülte. Lily hatte jeden Tag an dieser Stelle gekniet, das Unkraut gejätet und ihr Tagebuch versteckt – zuerst vor ihrer Mutter und ihrer Schwester, später vor ihrem Mann und den Kindern.
    Dana hatte nicht mehr das Gefühl, einen Vertrauensbruch zu begehen, sondern vielmehr in ihrem Sinne zu handeln. Lily hatte sie aus einem bestimmten Grund hierher geführt, nämlich um ihre Töchter zu retten. Davon war Dana fest überzeugt.
    »Ich habe es gefunden, Lily.« Den Schlüssel aus der Mondstein-Schatulle hielt sie fest in der Hand. »Und die beiden Kinder werde ich auch finden.«
    Dann eilte Dana ins Haus, vorsichtig, damit ihr das kostbare Tagebuch nicht entglitt und im Matsch landete. Sie lief an ihrer Mutter vorbei, die schweigend zum Wohnzimmerfenster hinaussah, Maggie wieder auf ihrem Schoß. Es war, als gönne sich die Hündin nach getaner Arbeit die verdiente Ruhepause.
    Dana ging die Treppe hinauf, wobei das Regenwasser auf den polierten Kiefernboden tropfte, und in Lilys Schlafzimmer. Dort machte sie die Tür hinter sich zu, wickelte sich in ein Badetuch und setzte sich aufs Bett.
    Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel in das kleine runde Schloss und drehte. Nichts. Sie zog ihn wieder heraus und wischte ihn mit dem Badetuch ab, um den Rost zu entfernen, dann versuchte sie es noch einmal. Der Schlüssel passte.
    Dieses Mal ließ er sich umdrehen. Das Schloss sprang auf, und Dana öffnete die Lasche des Tagebuchs. Dann begann sie zu lesen:
    Hallo, neues Tagebuch. Du bist das jüngste Mitglied einer Familie, die weit zurückreicht, aber ich liebe dich schon jetzt. Du wirst viel zu hören bekommen, Gutes und Schlechtes. Ich bin ein emotionaler Mensch, und es hilft mir, alles zu Papier zu bringen, was mich bewegt. Damit erspare ich meinen Lieben, meinen ungefilterten Frust über sich ergehen lassen zu müssen.
    Ich hasse es, meinen Mann anzuschreien, und das gilt auch für meine Kinder. Aber niemand ist perfekt – c’est la vie! Mark ist mein Spiegel: Wenn ich ihn anschaue, sehe ich, was ich besser machen könnte. Wenn er Quinn schroff zurechtweist oder ungeduldig mit Allie wird, bin ich stinkwütend auf ihn. Nicht, dass so etwas oft vorkommt. Er ist ein wunderbarer Vater. Mit ihm habe ich einen Glücksgriff getan.
    Ein interessanter Anfang für mein neues Tagebuch. Mark steht wieder mal im Mittelpunkt. Ich gestehe, dass es leichter ist, sein Verhalten unter die Lupe zu nehmen statt das eigene. Deshalb möchte ich ein bisschen Dampf ablassen und dir erzählen, was er gerade macht.
    Seine Firma läuft blendend. Grayson, Inc. arbeitet an zwei großen neuen Projekten, das eine in Cincinnati, Ohio, das andere hier in Connecticut. Bei beiden handelt es sich um betreutes Wohnen für Senioren in einer großen Anlage mit allen Schikanen, ein Trend, der Zukunft hat. Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass Mom langsam alt wird und Marks Eltern beide in einem freudlosen Heim in der Nähe von Providence gestorben sind. Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, in denen sich die alten Herrschaften wirklich wohl fühlen, ist also erstrebenswert, besonders für Mark, der einfühlsam und gutherzig ist – und überdies sehr gewissenhaft, was die Grundstücke angeht, die erschlossen werden.
    Dummerweise ist Cincinnati weit weg. Er muss oft zur Baustelle – und wenn ich oft sage, meine ich oft. Er hat die Aufsicht über das Projekt und nimmt es damit sehr genau! Er überprüft praktisch jeden Hammer und Nagel, um sich zu vergewissern, dass alles nach Vorschrift läuft. Der Bauunternehmer hat eine Frage, und schon springt Mark ins nächste Flugzeug, um sie an Ort und Stelle zu klären.
    Manchmal fände ich es besser, wenn er nicht ganz so erfolgreich wäre. Wir kämen gewiss mit weniger Geld aus, früher hat es ja auch gereicht. Und wozu brauchen wir neue Autos, ein größeres Boot? Die
Mermaid
gefällt mir noch immer. Wir haben erst Januar, aber er redet jetzt schon davon, noch vor Beginn des Sommers ein großes Segelschiff zu kaufen.
     
    Zweiter Februar – Lichtmess. Ich hoffe, dass heute weder Mensch noch Tier seinen eigenen Schatten sieht. Ich bin abergläubisch und nicht erpicht auf weitere sechs Wochen

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