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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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schnell, und das Wasser floss wie Quecksilber im Thermometer durch den Rumpf und durch die Abflusslöcher im Heck wieder hinaus. Wenn ein Geschwindigkeitsmesser an Bord gewesen wäre, hätte er bestimmt hundert Meilen in der Stunde angezeigt. Aber da es keinen gab, war sie auf Vermutungen angewiesen.
    »Viel schlimmer!«, brüllte sie. »Höhere Wellen und noch mehr Wind.«
    »Können wir kentern?«
    »Das werde ich verhindern.«
    »Sind da auch Schifffahrtsstraßen?«
    »Ich glaube nicht! Dazu ist das Meer viel zu groß.«
    »Was ist, wenn wir an Martha’s Vineyard vorbeisegeln? Wenn wir die Insel verfehlen?«
    »Dann landen wir in Frankreich, und Tante Dana kann kommen, um uns abzuholen. Da wollte sie ja immer hin!« Das Boot wurde emporgehoben und krachte auf eine Welle, so dass Quinn das Lachen verging. »Aber keine Bange, Al, wir verfehlen sie schon nicht. Achte du nur darauf, dass wir den Kurs halten. Das ist deine Aufgabe. Ich bin der Steuermann, und du bist für den Kompass zuständig.«
    »Neunzig, Quinn!«
    »Neunzig, Al«, brüllte Quinn, den Wind übertönend, als sie die nordöstliche Spitze der Insel umrundeten und mit voller Fahrt weitersegelten, direkt auf den Atlantischen Ozean zu.
     
    Dana war ohne Mantel und Hut hinausgelaufen, hatte auch keine Schaufel mitgenommen. Sie hatte sich den zweiten Schlüssel zwischen die Zähne geklemmt und kniete im Kräutergarten und grub mit bloßen Händen in der Erde. Es goss in Strömen, der Wind trieb den Regen vom Sund herüber, und der kleine Garten war überschwemmt.
    Kreisförmig angelegt, von einer Steineinfassung umsäumt, maß der Kräutergarten etwa vier Meter im Durchmesser. Lily hatte ihn selbst geplant und jedes Fleckchen Erde bepflanzt, als sie beide noch zur Schule gingen. Sie hatte schon immer Blumen und Kräuter geliebt und mit Vorliebe Landschaften gemalt; Martha hatte ihr dieses Areal überlassen, um einen Garten nach ihrem Geschmack anzulegen.
    Flache blaue Steine waren in regelmäßigen Abständen als Trittsteine verwendet worden, um das Jäten des Unkrauts und das Bepflanzen zu erleichtern. Die Kräuter waren perfekt angeordnet, wie es Lilys Vorstellung entsprach: Salbei im Norden, der Weisheit verlieh, wie es hieß; Thymian im Westen für ein langes Leben; Lavendel im Süden, als Erinnerung an ihren Vater und andere, die das Zeitliche gesegnet hatten oder in der Ferne weilten, Rosmarin und Minze im Osten, als Symbol der Liebe.
    Die aromatischen, geheimnisvollen Düfte stiegen rings um Dana auf, vermischten sich mit dem satten Geruch der nassen Erde. Sie grub vorsichtig um den Rosmarin herum, Lilys Lieblingskraut, und um den Thymian, den Dana bevorzugte. Sie zermarterte sich das Gehirn, versuchte, sich zu erinnern. Es war Jahre her, dass sie gesehen hatte, wie sich Lily am späten Abend in den Kräutergarten stahl, ihr Tagebuch in der Hand. Dana hatte es begriffen: Sie will es draußen vergraben, um es vor uns zu verstecken.
    Dana war nicht erpicht darauf, das Tagebuch zu lesen. Als große Schwester hatte sie stets eine Herausforderung darin gesehen, das Versteck aufzuspüren. Mehr nicht.
    Doch in diesem Augenblick hatte sie das unerklärliche Gefühl, es sei die letzte Hoffnung, die einzige Chance, das Leben ihrer Nichten zu retten. Lily oder die Meerjungfrau, oder beide, hatten ihr die Eingebung geschickt, in den strömenden Regen hinauszugehen, um das Tagebuch und die Wahrheit zu finden.
    Aber es war nicht da.
    Der Garten war mit Löchern übersät, als wäre einem Hund entfallen, wo er seine Knochen vergraben hatte. Dana setzte sich auf die Fersen zurück, ließ den Regen über ihr Gesicht strömen, so dass der Schlamm an ihren Händen und Knien abgewaschen wurde. Sie wünschte, Sam wäre bei ihr, um beim Graben zu helfen und ihr einen Tipp zu geben, was sie als Nächstes tun sollte.
    Ihr Blick schweifte über den kleinen Garten, als er mit einem Mal auf die Sonnenuhr traf. Sie hatte sie zunächst nicht gesehen. Das alte Messing-Zifferblatt, mit Grünspan überzogen, fügte sich unmerklich in das Blattwerk der Kräuter ein. Verbenen und blaue Lobelien wuchsen ringsum, und die Ranken des weißen Geißblatts hatten es überwuchert. Der Sockel der Sonnenuhr war, als das Haus 1938 erbaut wurde, von ihrem Großvater im Erdreich einzementiert worden.
    Als Dana den Messingzeiger mit den grünblauen Roststellen berührte, stellte sie verwundert fest, dass die Uhr wackelte. Sie beugte sich vor, während ihr der Regen in die Augen rann, und zog

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