Schilf im Sommerwind
Dann haben wir genug auf der hohen Kante, um die Ausbildung der Mädchen zu finanzieren, und die Hypothek ist fast abbezahlt. Ich freue mich für ihn: Endlich zahlt sich die jahrelange, harte Arbeit und die Fähigkeit aus, seinen Zielen treu zu bleiben.
Mark ist ein Prachtkerl. Er beschäftigt nur gute Leute, denen er vertrauen kann. Er ist absolut integer und unbestechlich. Als er entdecken musste, dass die Installationsfirma minderwertiges Material verwendete, sorgte er dafür, dass der Bauunternehmer ihr auf der Stelle den Auftrag entzog.
Ich bin zufrieden mit unserem Leben. Wir segeln, arbeiten gemeinsam im Garten, legen Wert auf die Familie, gehen liebevoll miteinander um. Manchmal schaffe ich es sogar, zu malen, und ich habe dafür den richtigen Rahmen, ein schönes Zuhause. An Motiven herrscht hier kein Mangel. Mark liebt meine Schwester, was auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn sie nur in der Nähe lebte – dann wäre wirklich alles perfekt.
Juni, Vollmond – Paarungszeit für Molukkenkrebse in aller Welt. Vielleicht sollten Mark und ich heute Nacht ebenfalls versuchen, für Nachwuchs zu sorgen. Wenn er von Massachusetts nach Hause kommt, könnte ich ihm bei einer Fahrt auf unserem technisch hochgerüsteten neuen Schiff zeigen, was ich für neue Techniken im Repertoire habe. Habe ich welche? Höchste Zeit, es herauszufinden.
Habe ich wirklich erst letzte Woche geschrieben, unser Leben sei perfekt? Wie konnte ich nur so blind sein für die größte Lüge aller Zeiten. Oder besser gesagt, den größten Lügner aller Zeiten. Mark hat mich schamlos belogen. Er behauptet, das stimmt nicht, aber auch das ist eine Lüge. Er sagt, mit der Formulierung ›im Südosten von Massachusetts‹ habe er sich nicht aus der Affäre ziehen und von Martha’s Vineyard ablenken wollen. Dort wird sein neues Projekt nämlich entstehen – aber es ist keine Wohnanlage für Senioren, weit gefehlt! Er will mir einreden, das habe er nie behauptet, es sei eine Schlussfolgerung von mir, weil er in den letzten drei Jahren nur mit solchen Aufträgen befasst war!
Marks neues Projekt ist ein Komplex mit vier protzigen, hässlichen Ferienhäusern auf Martha’s Vineyard. Auf meiner heiß geliebten Insel, wo Dana und ich gelebt und gemalt haben, wo Mark und ich unseren ersten eigenen Hausstand hatten, wo Quinn gezeugt und geboren wurde. Aber am schlimmsten ist: das Land, das zugebaut wird, ist der Honeysuckle Hill.
Unser kleines Paradies … dort hat er mich gefragt, ob ich seine Frau werden will. Wir haben oft dort gezeltet, am sechzehnten Juni, dem Jahrestag seines Heiratsantrags. Unfassbar!
Er sagt, er sei auf der Insel aufgewachsen und wisse daher besser als ich, wie es um ihre Zukunft bestellt sei. Menschen, die auf dem Festland lebten, verstünden das nie: Wenn schon jemand mit den reichen Sommergästen Geld verdiene, hätten die Einheimischen dieses Vorrecht. Er meint, ich sei viel zu romantisch, zu unrealistisch. Angriff ist die beste Verteidigung und seine Rechtfertigung dafür, dass er mir kein Sterbenswörtchen erzählt hat!!! Dass die Straßen unbefestigt bleiben und die Sümpfe nichts von ihrer Ursprünglichkeit verlieren, sei gut und schön, meinte er, aber die Inselbewohner müssten ihr täglich Brot verdienen. Sein Bruder braucht Arbeit, und die nicht mehr erwerbsfähigen Alteingesessenen – die Erben – das Geld aus dem Verkauf des Landes.
Furchtbar. Ich glaube, dass er den größten Fehler seines Lebens begeht.
Liebes Tagebuch, ich denke, du bist mein einziger Freund. Zumindest heute … ich habe mich wieder einmal mit Mark gestritten. Er hat mir die Baupläne gezeigt – das Gelände befindet sich zum Glück auf der Westseite des Honeysuckle Hill, nicht auf der Ostseite, wo er mir den Heiratsantrag machte. Trotzdem sind die Häuser protzig und klobig. Wie die ›McMansions‹, die man sich per Mausklick im Internet aus Fertigbauteilen zusammenstellen kann: mit einem Fenster zur Bucht hinaus, einem zusätzlichen Oberlicht oder einer Aussichtsplattform auf dem Dach. Ich hasse solche Nullachtfünfzehn-Häuser auf der Insel, man sieht sie inzwischen überall an der Küste von Neuengland. Sogar hier in Black Hall … sie schießen überall wie Pilze aus dem Boden.
Klingt das wie eine loyale Ehefrau, die ihren Mann unterstützt, Baubranche hin oder her? Vermutlich nicht. Habe ich den Kopf in den Sand gesteckt, weil er die meiste Zeit außer Sichtweite tätig war, in Gegenden, zu denen ich keinen
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