Schilf im Sommerwind
ihrer Hand, das ihre Schwester achtundzwanzig Jahre lang auf der bloßen Haut getragen hatte. Sie hatte es von Dana geschenkt bekommen, als sie dreizehn und elf gewesen waren, und im Lauf der Jahre Fotos von allen Personen darin verwahrt, die ihr lieb und teuer waren. Kein Wunder, dass Sam es nirgendwo in dem Boot entdecken konnte; Lily hätte ihr kostbarstes Schmuckstück nie bei einer Segelpartie getragen.
Mit zitternden Händen öffnete Dana das Medaillon. Sie nahm den Daumennagel zu Hilfe, hörte den Verschluss leise klicken. Die beiden silbernen Ovale, auf einer Seite durch Scharniere verbunden, klappten auf wie ein Buch, und ein zweiter, noch kleinerer Schlüssel fiel ihr in den Schoß. Dana schloss die Augen, hatte Angst bei dem Gedanken, was sie noch alles finden würde. Als sie die Augen schließlich öffnete, begann ihr Puls zu rasen.
Auf der einen Seite des Medaillons sah sie ein kleines Foto von Lily und den Mädchen im Kräutergarten. Mark hatte es vermutlich geschossen, und es offenbarte, dass ihm die Personen sehr vertraut waren. Lily trug ihren Sonnenhut und hatte die Arme um ihre Töchter gelegt.
Alle drei lächelten in die Kamera. Das Foto war noch vor Quinns Rasta-Phase aufgenommen; sie trug die braunen Haare offen, die im Sonnenlicht schimmerten. Allies Locken hatten einen strahlenden Glanz, der nur noch von ihrem Lächeln übertroffen wurde. Die Mädchen hatten je einen Gartenhandschuh von Lily übergestreift und hielten Spaten und Rechen wie Zepter in der Hand. Lily hatte ein kleines Buch in der Hand, die auf Quinns Schulter ruhte, und einen Stift in der anderen, die auf Allies lag.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Medaillons befand sich ein Bild von Dana und Lily. Aus derselben Zeit wie das Gartenfoto stammend, war es vor etwa drei Jahren aufgenommen worden. Dana sah die Liebe in den Augen ihrer Schwester. Als sie ans Fenster eilte, um nach Booten Ausschau zu halten, war ihr bewusst, dass nichts und niemand diese Liebe ersetzen konnte. Dennoch schweiften ihre Gedanken zu Sam.
Er war dort draußen, suchte die Mädchen. Dana vertraute ihm uneingeschränkt. Er hatte sich nahtlos in ihre Familie eingefügt, als sie ihn am meisten brauchte. Sie hoffte, dass es ihm gelang, Lilys Töchter nach Hause zu bringen; aber mehr als alles andere wünschte sie sich, den Mädchen ein Zuhause zu geben, wie ihre Schwester es gewollt hätte.
Hier in ihrem Haus, dem Zuhause, das Lily geliebt hatte. Dana dachte an die Schuldgefühle und das schlechte Gewissen ihrer Mutter, weil die Mädchen sang- und klanglos verschwunden waren. Vielleicht war es in Wirklichkeit meine Schuld, dachte Dana, das Medaillon in der Hand. Ich hätte nicht nach New York fahren und Quinn alleine lassen sollen.
»Es tut mir Leid, Lily.« Ihre Stimme brach. »Ich wollte ihnen keinen Schaden zufügen. Sag mir, was ich tun soll, bitte, Lily. Hilf mir!«
Als sie abermals das Foto betrachtete, bemerkte sie die Kette um Lilys Hals. An ihr hing das Medaillon und dahinter – golden glitzernd – der kleine Schlüssel, den sie nun an einer Kordel um ihren eigenen Hals trug.
Dann sah sie das Foto von Lily, Quinn und Allie an, und plötzlich entdeckte sie das Notizbuch.
Es hatte einen rötlichen, fast braunen Einband. Ziemlich klein, hatte es die Größe eines Kindertagebuchs. Als Dana genauer hinsah, sah sie an der Schlaufe und dem Schloss, dass es ein Tagebuch war. Draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben, und die Markisen flatterten im Wind, der zunehmend stärker blies. Was für eine Rolle spielte das Tagebuch? Sie würden das untergegangene Boot finden und so auch etwas über den Unfallhergang erfahren. Und was das Geld in der Angelkiste betraf – es war von zweifelhafter Herkunft und stand in Zusammenhang mit dem Sun Center, aber das war Schnee von gestern und hatte nichts mit der heutigen Situation ihrer Familie zu tun.
Dennoch, das Medaillon brannte in ihrer Hand. Dana starrte die Fotos an, dann fiel ihr Blick auf die Schneekugel neben Lilys Bett. Die Meerjungfrau schien ihr zuzuwinken, und sie nahm das Glas hoch und schüttelte es. Winzige rote, gelbe und blaue Fische wirbelten in dem Wasser umher. Die Kugel stammte aus dem Laden von Miss Alice, ungefähr aus der gleichen Zeit, als Dana das Medaillon gekauft hatte.
Das ist eine Zauberkugel
, hatte ihnen die alte Dame erzählt, während sie die kostbare Glaskugel behutsam in ihren von der Gicht verkrüppelten Fingern hielt. Die weißen Haare zu einem Knoten
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