Schilf im Sommerwind
Himmel. Quinn griff in ihre Tasche. Sie holte das Geschenk heraus und ließ es, wie immer, auf dem Felsen liegen, der sich in unmittelbarer Näge der Gezeitenlinie befand.
Es war an der Zeit, ihr Tagebuch zu verstecken und nach Hause zurückzukehren.
Von den Mädchen fehlte jede Spur. Dana war überdreht wegen der Zeitverschiebung und des Wiedersehens mit ihrer Familie, und so schlenderte sie zum Schuppen am Fuß des Hügels hinunter, direkt neben der Straße. Sie schob das schwere Tor hoch und trat ein. Es roch feucht und muffig, und Efeu hatte sich seinen Weg durch die Ritzen in der morschen Holzverschalung und die Risse im Beton gebahnt, rankte an den Innenmauern empor.
Das alte Segelboot war auf einem verrosteten Wohnwagenanhänger an der Seite des Schuppens aufgebockt. Es war eine Blue Jay, deren Farbe vom hölzernen Rumpf abblätterte. Da sie viel Platz einnahm, hatte man sie mit Rechen, Schaufeln, Säcken mit Kalk, leeren Kartons, dem Christbaumständer, einem Drahtkorb für den Muschelfang, Angelruten und einer Plastiktüte mit leeren Flaschen voll gestopft. Der mit einem Schutzanstrich versehene Mast war stellenweise geschwärzt, und die Segeltasche hatte Schimmelflecken.
Dana und Lily hatten in diesem Boot segeln gelernt. Dana ließ ihre Hand über die Seiten gleiten und erinnerte sich, wie sie ihrem Vater in den Ohren gelegen hatten, weil sie es unbedingt haben wollten. Er hatte nachgegeben und gesagt, sie müssten sich das Geld selber verdienen. Als Dana zum Heck des Bootes kam, musste sie tief Luft holen, bevor sie in der Lage war, einen Blick auf die Querversteifung zu werfen. Da war er, der Name:
MERMAID
Obwohl sie wusste, dass er sich dort befand, schlug ihr Herz schneller. Ihre Finger zeichneten die Buchstaben nach. Lily und sie hatten mit akribischer Sorgfalt eine Schablone gebastelt, und Lily hatte die weiße Farbe aufgepinselt. Danach hatten sie eine Meerjungfrau mit runden Brüsten und zwei Schwanzflossen auf den Rumpf gemalt, denn so fühlten sie sich bisweilen: einander so nahe, als teilten sie sich einen Körper, während jede auf eigenen Beinen durchs Leben ging.
»Hier steckst du«, rief Danas Mutter; auf ihren Krückstock gestützt, spähte sie in den dunklen Holzschuppen. »Meine Güte, ist das muffig und kalt hier drinnen.«
»Hallo, Mom.«
»Ich dachte, wir sollten miteinander reden, bevor die Mädchen wieder auftauchen. Wann fliegst du zurück?«
»Das sagte ich bereits, Mom. Am Donnerstag. Hast du die Pässe gefunden?«
»Sie sind in Lilys und Marks Schließfach in der Bank.«
Dana nickte. Sie hätte es wissen müssen. Lily hatte für jedes Kind schon bei der Geburt vorsorglich einen Pass ausstellen lassen – Quinns in Martha’s Vineyard, Allies hier in Connecticut; sie hatte geahnt, dass angesichts Danas Neigung, ein Nomadenleben zu führen, viele Auslandsreisen bevorstanden, wenn die Mädchen ihre Tante besuchen wollten. Als Testamentsvollstreckerin hatte Dana eine Liste mit dem Inhalt des Schließfachs erhalten.
»Du kennst meine Meinung«, fuhr ihre Mutter fort, als besäße sie keinerlei Gefühl, wäre taub vom Hals aufwärts.
»Ja. Ich soll hier einziehen, damit du in dein Seniorenheim zurückkannst. Aber das geht nicht, Mom. Mein Atelier befindet sich in Honfleur. Ich habe derzeit zwei Aufträge und mit beiden bereits angefangen. Den Mädchen wird es in Frankreich gefallen. Sie sind blitzgescheit und werden die Sprache im Handumdrehen lernen.«
»Warum machst du es uns allen so schwer?«
»Schwer?«
Ihre Mutter blickte durch sie hindurch. »Indem du vorgibst, als ginge es dabei lediglich um logistische Erwägungen. Wer am besten wohin zieht … Liebes, das hier ist dein Zuhause.«
»Ich weiß.« Aus dem Augenwinkel wirkte das Boot groß, ragte drohend vor ihr auf. Lilys Meerjungfrau-Hälfte schien strahlender zu lächeln. Bei dem Anblick verkrampfte sich Danas Herz. Alles, was sie sah oder roch, erinnerte an Lily. Warum konnte nicht jede Liebe so sein wie die Beziehung zu ihrer Schwester: offen, aufrichtig, wahr, greifbar, für immer und ewig? Wenn sie an Jonathan dachte, an seine Lügen, bekam sie Magenschmerzen. Der Aufenthalt in Hubbard’s Point, wenn auch nur für vier Tage, war schier unerträglich ohne Lily.
»Mom, warum steht das Boot im Schuppen?«
»Wie bitte?«
»Die Mädchen hätten es doch benutzen können«, sagte Dana und musterte die abblätternde Farbe, den von Rankenfußkrebsen verkrusteten Schiffsboden.
Martha schüttelte den
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