Schilf im Sommerwind

Schönheit, egal nach welchen Maßstäben. Mit ihren langen weißen Haaren, die über das schwarze Samtcape fielen, wirkte sie atemberaubend und dramatisch wie eine Operndiva. Sam konnte nachempfinden, dass sich der namhafte Maler Hugh Renwick in sie verliebt und ihr die berühmte schwarze Perlenkette geschenkt hatte, die sie ständig trug.
    »Ich hatte Sehnsucht nach dir, was sonst, Augusta.« Er küsste ihr galant die Hand.
    »Mein lieber Junge, danke für das Kompliment, aber wir beide wissen, das ist erstunken und erlogen«, konterte sie mit einem anmutigen Lachen.
    »Was?« Sam wurde rot.
    »Ich war in der Galerie, falls du dich erinnerst. Ich habe die Blumen gesehen, die du in der Hand hattest, und sowohl Clea als auch Skye meinten, du wärst bei deinem Gespräch mit Dana Underhill hin und weg gewesen.«
    »Augusta, ich bin wirklich gekommen, um dich wiederzusehen. Ich war gerade in der Gegend, und da dachte ich mir, ich besuche meine –«, begann Sam, aber sie unterbrach ihn.
    »Spar dir das, Sam. Ich bin alt und gehöre zur Familie. Es besteht keine Notwendigkeit, Süßholz zu raspeln. Also – ruf sie schon an, das Telefon ist drinnen.«
    Er hatte sich nicht lange bitten lassen. Das Mädchen – Danas Nichte, wie er vermutete – hatte den Anruf entgegengenommen, war hinausgerannt, um ihre Tante zu holen, und atemlos zurückgekehrt. Sie keuchte, als litte sie an einer Erkältung oder Allergie oder als hätte sie geweint, und zur beiderseitigen Erheiterung hatte Sam das alte Seemannslied ›Anchors Aweigh‹ gepfiffen, während sie warteten.
    »Sie pfeifen gut«, sagte sie.
    »Findest du?«
    »Ja. Mein Dad konnte genauso gut pfeifen.«
    »Hat er ›Anchors Aweigh‹ gepfiffen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Hm. Das kann ich ihm nicht verdenken. Mein Lieblingslied ist es auch nicht, aber wenn du in Newport, Rhode Island, aufgewachsen wärst wie ich, wo oft eine ganze Horde von Seeleuten – Angehörige der Navy – die Thames Street entlangmarschierte und ›Anchors Aweigh‹ pfiff, hättest du dich von diesem Ohrwurm auch irgendwann anstecken lassen. Es geht ehrlich ganz leicht – versuch’s mal.«
    »Ich kenne das Lied nicht.«
    »Es geht so.« Er pfiff ihr ein paar Noten vor.
    Die Kleine gab sich redliche Mühe. Sie pfiff grauenvoll.
    »Meine Tante ist eine berühmte Malerin.«
    »Ich weiß.«
    »Waren Sie bei der Ausstellung?«
    »Ja.«
    »Meine Mom hat sie organisiert.«
    »Das war eine unglaubliche Leistung.« Sam holte tief Luft.
    »Da kommt meine Tante«, sagte das Mädchen.
    Der Hörer baumelte an der Schnur hin und her, und Sam hörte am gedämpften Ton, dass sich eine Handfläche über das Mundstück legte. Dennoch drangen einige Worte, von einer Kinderstimme geäußert, durch den Filter: ›Pfeifen‹, ›Navy‹ und ›berühmte Malerin‹. Dann räusperte sich Dana und meldete sich.
    »Ja bitte?«
    Sams Herz hämmerte wie verrückt, und es dauerte eine Sekunde, bis er seine Stimme wiederfand.
    »Guten Tag, Dana. Sam hier.«
    »Tag, Sam.«
    »Also, ich bin gerade in der Gegend, besuche Augusta Renwick, und dachte, ich melde mich mal bei dir.«
    »Oh, das ist aber nett, Sam. Wie geht es dir?«
    »Gut, danke.« Sam starrte aus dem Küchenfenster zur Klippe hinüber, die einen Ausblick auf den Long Island Sound bot. Er wusste, dass sich Dana nur wenige Meilen entfernt an der Küste befand, und fragte sich, ob sie auch das Rauschen der Wellen hörte. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«
    »Nun …« Sie verstummte, als wäre die Antwort zu schwierig oder zu kompliziert, um sie in Worte zu fassen.
    »Die Sache ist die – ich dachte, dass du vielleicht jemanden brauchst, mit dem du reden kannst.«
    Sie wartete darauf, dass er fortfuhr. Ihre Atemzüge hatten eine erstaunliche Ähnlichkeit mit denen ihrer Nichte: weich, ungeschützt, seltsam gefühlvoll.
    »Und ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hättest, mit mir essen zu gehen, vor deiner Rückkehr nach Frankreich. Wie findest du das?«
    »Essen gehen?«, fragte sie, als hätte sie den Ausdruck noch nie gehört.
    »Die Sache ist die – ich bin gerade in Black Hall. Auf Firefly Hill, wie ich bereits sagte. Ich werde höchstwahrscheinlich hier übernachten und dachte, ich könnte dich abholen und zum Abendessen ausführen. Vielleicht ins Renwick Inn …«
    Sie schwieg, die Stille schien sich auszudehnen. Er würde sie nicht drängen. Sie hatte eine Menge zu verkraften, vielleicht mehr, als ihr bewusst war. Sam wusste,