Schilf im Sommerwind
marschieren muss, um mein bescheuertes Tagebuch zu schreiben. Nur damit Grandma nicht in meiner Unterwäsche herumsucht und ausrastet, wenn sie das liest, was jetzt gleich folgt. Aber ich schreibe es trotzdem: Tante Dana kann mir langsam gestohlen bleiben. Echt den Buckel runterrutschen. Es wäre besser, wenn sie nicht bis zum Sommer wartet, um bei uns zu leben, sondern sich sofort auf die Socken macht. Ich habe die Nase voll von Grandmas Gejammer, wie kalt das Haus ist, wie sehr es sie anstrengt, zu Fuß bis zum anderen Ende der Straße zu gehen, um die Zeitung zu besorgen, und um wie viel einfacher das Leben im Seniorenheim ist, wo man ihr alles bis an die Tür bringt und die Heizung immer mollig warm ist. Tante Dana schreibt dauernd, dass sie kommt, aber das sind leere Versprechungen. Sie behauptet, dass sie sich auf die Ausstellung vorbereiten und noch zwei oder drei von ihren beschissenen Bildern zu Ende malen muss, dass sie Mom nicht enttäuschen will. Ich kapiere das nicht. Ich dachte, sie liebt mich. Allie hat Grandma, und da wäre es doch nur gerecht, wenn ich Tante Dana habe!
Unsere Eltern wollten, dass sie uns bekommt. Also sollten wir mit ihr zusammenleben, und nicht mit Grandma. Klar hat Mom die Ausstellung in der Black Hall Gallery angeleiert, aber Mom ist nicht mehr da. Ich dagegen schon! Und ich habe ihr außerdem dabei geholfen, alles in die Wege zu leiten. Ich habe Mom begleitet, als sie dort mit den Dias aufkreuzte.
Vielleicht wird doch noch alles gut, wenn Tante Dana zur Ausstellung kommt und bei uns einzieht. Es könnte wieder so werden wie früher. Mom ist nicht mehr da, aber Tante Dana bei uns zu haben wäre ein Trost. Ich denke immer wieder daran, wie sie bei der Einäscherung aussah. Wie ein Kabuki-Krieger: Groll, Zisch, Ächz. Richtig Furcht erregend. Und erst ihr Gang, kerzengerade …
Da Quinn die Horrorszene nicht noch einmal durchleben wollte, leckte sie über die Spitze des Filzschreibers und schlug eine neue Seite auf. Sie begann zu schreiben, die Worte flossen wie von selbst. Kleine Wellen schwappten ans Ufer, Gischt netzte ihr Gesicht. Ihre Umgebung ignorierend, versenkte sich Quinn in die Welt der Gefühle, verströmte sie auf dem Blatt Papier, blind für die Idylle des frühen Sommermorgens.
Ich hasse Gott und die Welt. Ich hasse Gott und die Welt, ich hasse Gott und die Welt, ich verfluche und verabscheue Gott und die Welt. Sie ist die größte Niete, die man sich vorstellen kann. Richtig, ich sagte ›sie‹. Welche ›sie‹? Nun, das kannst du dir aussuchen, liebes Tagebuch. Grandma, Allie, Tante Dana und Mom. Sie nerven, jammern, tricksen und sterben, in dieser Reihenfolge. Grandma nervt mit ihren ständigen Ermahnungen, mich anständig zu benehmen, Allie jammert und heult in einer Tour, was jetzt werden soll, Tante Dana glaubt, sie könnte Allie und mich mit Trick siebzehn bewegen, bei ihr in Frankreich zu leben, und Mom bekam einen Schock, als sie mein Tagebuch las und entdecken musste, was mit mir los ist, und dann starb sie. Wie konnte ich in eine solche Familie hineingeboren werden? Ich will nicht weg von hier. Es ist mir egal, was sie mit mir machen, aber mich bringen keine zehn Pferde nach Frankreich. Ich kann nicht glauben, dass ich Mom nie wiedersehen werde. Es war Mist, was in meinem Tagebuch stand, Sachen, die nicht für ihre Augen bestimmt waren; kein Wunder, dass sie ausgerastet ist. Sie hasste mich deswegen, und der Witz ist, dass ich es ihr nicht einmal verdenken kann.
Heute habe ich geflucht wie ein Rohrspatz, im Beisein von einem dieser perfekten Väter mit Sprössling, und er hat mich fertig gemacht. Trotzdem, besser mich als sein Kind. Man kann nie wissen, wenn man sein Kind fertig macht, ob einen nicht die nächste Welle erwischt, auf Nimmerwiedersehen. Jeder Tag kann der letzte sein. Früher war Segeln mein Ein und Alles. Mom meinte, ich hätte sogar das Zeug, später einmal an einer Olympiade teilzunehmen. Jetzt hasse ich Segeln.
FRANKREICH KANN MIR GESTOHLEN BLEIBEN , UND DAMIT BASTA .
Als sie den Eintrag beendet hatte, fühlte sie sich besser. Sie Sonne brannte auf ihr Gesicht, und die zurückweichende Flut hinterließ den Geruch nach Seetang auf Klippen und Sand. Alles war salzig: das Meer, der Riementang, der Beerentang, ihre nassen Wangen. Während sie mit der Zunge über ihre Lippen fuhr, wickelte sie ihr Tagebuch sorgfältig in den Plastikbeutel ein. Am Horizont tanzten Segelboote, klein wie Nussschalen, auf den Wellen. Weiße Segel, blauer
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