Schilf im Sommerwind
keine Ahnung, wie du mit ihr arbeitest. Seit du Lily gemalt hast, konnte ich keine menschliche Gestalt mehr in deinen Bildern entdecken. Aber Lily sagte mir, du hättest ein asiatisches Mädchen, das dir gegen Entgelt Modell sitzt …«
»Meine Assistentin Monique«, sagte Dana benommen. »Sie ist Vietnamesin. Ihre Familie war nach dem Krieg nach Frankreich ausgewandert … zuerst lebten sie in Paris, und danach eröffneten sie in Lyon ein Restaurant.«
Das Mädchen war schön, hatte eine Menge durchgemacht, hatte Angehörige im Krieg und in den Wirren der Nachkriegszeit verloren. Die Porträtmalerei war nicht gerade Danas Stärke. Als sie beschloss, Meerjungfrauen zu malen, hatte sie ihre Assistentin gebeten, ihr Modell zu sitzen. Monique mit dem zarten Knochenbau und dem geschmeidigen Körper, den festen Muskeln und schlanken Beinen schien perfekt dafür geeignet. Abgesehen davon hatte Dana eine Schwäche für Menschen, die von ihrer Familie getrennt waren und sie finanziell unterstützen wollen, und bot ihr zusätzliche Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten.
»Ja richtig, Monique. Lily war froh, dass du in deinem Atelier Gesellschaft hattest. Sie meinte, eigentlich sei diese Rolle ihr zugedacht, aber aufgrund der Entfernung müsstest du eben mit Monique vorlieb nehmen.«
»Lily schrieb ihr«, erinnerte sich Dana. Monique hatte den Brief aufgemacht und schweigend überflogen. Als unsentimentaler, nüchterner Mensch waren ihr Lilys Beweggründe unverständlich gewesen. Als sie das blaue Briefpapier in den Papierkorb im Atelier warf, hatte Dana ihn herausgefischt und gelesen:
Ich beneide Sie, weil Sie jeden Tag mit meiner Schwester zusammen sein können. Dana sagt, dass Sie schön sind, und deshalb werden Sie eine fantastische Meerjungfrau abgeben. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Meerjungfrauen sind für uns etwas Besonderes – sie sind wie Schutzengel. Dass Dana Sie als ihre Meerjungfrau auserwählt hat, will etwas heißen. Sie hat mir erzählt, dass Sie weit von zu Hause und Ihrer Familie entfernt leben. Ich bin sicher, dass sie sich Ihnen deshalb noch enger verbunden fühlt. Sie lebt weit von uns entfernt, und wir vermissen sie sehr.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte Dana bereits, dass Monique eine völlig andere Beziehung zu ihren Angehörigen hatte als sie. Monique hatte sich nicht nur räumlich, sondern auch emotional von ihnen distanziert. Sie hatte auch kein besonderes Interesse daran, eine enges Verhältnis zu Dana aufzubauen, und Lilys Brief hatte ihr nichts bedeutet.
»Mit einem bezahlten Modell zu arbeiten war ein Experiment. Es hat sich als Reinfall erwiesen.«
Danas Mutter machte ein enttäuschtes Gesicht. Über die Ausmaße der Bilder, die Höhe der Türen, Modelle und neue Oberlichter zu sprechen hatte vermutlich Hoffnung geweckt, als ob sie bereits gemeinsam einen Plan schmiedeten. Dana verstand sie nur zu gut. Es ging ihr kaum anders.
»Ach, Liebes.« Die Stimme ihrer Mutter klang müde, und einen Moment lang trafen sich ihre Blicke.
»Tante Dana!«, rief Allie oben vom Hügel. »Telefon für dich – Sam Trevor.«
»Wer ist denn das?«
»Jemand, den ich von früher kenne.« Danas Fingerspitzen prickelten, als sie die Blue Jay berührte. Sie nahm abermals das Heck des Segelbootes in Augenschein, die Meerjungfrau mit den zwei Schwanzflossen. Manchmal kam es ihr vor, als bräuchte sie eine zweite Schwanzflosse, um ihren Kurs zu halten, weil sie ohne Lily verloren war. Dana sah ihre Mutter nicht an, war sich aber des Kummers und der Wachsamkeit in ihren Augen bewusst und begann, den Hügel hinaufzulaufen.
Dana brauchte dermaßen lange, bis sie ans Telefon kam, dass Sam nicht mehr mit ihr rechnete. Er stand in der Küche von Firefly Hill und blickte zur Veranda hinüber, wo Augusta Renwick saß und schaukelte, knapp außer Hörweite. Seit Joes Heirat mit Caroline hatten ihm die Renwicks zu verstehen gegeben, dass er sich hier ebenfalls zu Hause fühlen möge und jederzeit willkommen sei. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er in Yale zu beschäftigt gewesen war, um öfter mit dem Auto die kurze Strecke nach Black Hall zu fahren und die Schwiegermutter seines Bruders zu besuchen, aber da sich Dana in der Stadt aufhielt, hatte er die Gelegenheit wahrgenommen.
»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«, hatte Augusta gefragt, seine Hand gehalten und ihn auf die Veranda geführt. Für ihr Alter – Ende siebzig, achtzig?, schwer zu sagen – war sie eine echte
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