Schilf im Sommerwind
Familie liegen.«
»Gut möglich.«
Augusta sah, wie er nach Osten, in Richtung Hubbard’s Point blickte. Zwar kannte sie die Underhills nicht näher, war ihnen aber im Lauf der Jahre einige Male in der Stadt begegnet. Ihre Töchter waren miteinander zur Schule gegangen, und Augusta glaubte, sich zu erinnern, Dana und Lily bei einem der Lagerfeuer am Firefly Beach gesehen zu haben. Nun wanderte ihr Blick ebenfalls nach Osten, und sie dachte daran, wie viele ihrer Kinder – biologische oder auch nicht – die große Liebe ihres Lebens an diesem Küstenstrich gefunden hatten.
»Sam?« Sie hielt noch immer seine Hand.
»Ja?«
»Mach einen Spaziergang«, sagte sie leise. Sie dachte daran, wie oft sie mit Hugh am Strand entlanggegangen war, wie oft sie sich geküsst hatten, während die Wellen ihre Füße umspielten.
»Wohin?« Langsam wandte er ihr den Kopf zu, so dass sie das Feuer in seinen grünen Augen sah.
»Das muss ich dir doch wohl nicht sagen, mein Junge.« Augusta schaukelte weiter und dachte an Hugh, während sie über den Sund blickte. »Du weißt, wohin.«
»Sie hat gesagt, dass sie heute Abend nicht mit mir essen gehen will.«
»Ich weiß.« Augusta wusste von Lily Graysons Tod im letzten Sommer und konnte sich vorstellen, wie sehr ihre Schwester – und ihre Mutter – darunter litten. Aber Augusta war selbst völlig unverhofft mit dem Tod konfrontiert worden und hatte erkannt, dass es die selbst gewählte Isolation früher oder später zu durchbrechen galt. »Falls sie Zeit und Entscheidungsfreiraum braucht, solltest du ihr beides lassen. Aber hör auf mich, Sam: nicht zu viel Zeit und nicht zu viel Freiraum.«
»Was willst du damit sagen?«
»Mach einen Spaziergang. Wer weiß, wohin er dich führt und wem du dabei begegnest.«
»Du meinst, nach Hubbard’s Point?«
Augusta nickte. »Ob du heute Abend wirklich die Möglichkeit hast, mit ihr zu sprechen, ist nebensächlich. Gesten sagen manchmal mehr als tausend Worte, Sam. Bring dich in Erinnerung, hinterlass deine Spuren im Sand, vielleicht gelingt es dir dadurch, den Stein ins Rollen zu bringen.«
»Der Rat erscheint mir zu weise, um ihn zu ignorieren«, meinte Sam grinsend.
»Ich fühle mich geschmeichelt.« Augusta lächelte. »Würdest du so nett sein, deine Bemerkung in Gegenwart meiner Töchter zu wiederholen? Es kann nicht schaden, wenn sie wissen, dass ein Professor aus Yale meine Ratschläge für weise hält.«
Lachend küsste Sam sie auf die Stirn und ging die lange Steintreppe zum Strand hinunter.
Die Mädchen waren still. Sie lagen auf getrennten Sofas an entgegengesetzten Seiten des Wohnzimmers, während eine Meeresbrise durch die geöffneten Fenster wehte und die Abenddämmerung silberne und rostrote Spuren auf der Oberfläche des Sunds hinterließ. Dana saß in einem Sessel, einen Skizzenblock auf dem Schoß, und betrachtete den Strand.
Nur wenige Leute schwammen noch um diese Zeit im Meer. Der Eismann hatte mit seinem Gefährt auf dem unbefestigten Parkplatz Stellung bezogen und wartete auf die Laufkundschaft, die nach dem Essen einen Verdauungsspaziergang machte. Ein Hummerfangboot pflügte durch die mit Bojen gesprenkelte Bucht, holte die Reusen ein. Dana atmete langsam ein und aus, erinnerte sich an den Lobster-Handel, den Lily und sie betrieben hatten. Sie hatten sich die
Dory
ihres Vaters, ein kleines Boot, ausgeliehen, sich eine Lizenz zum Ausbringen von fünfzehn Reusen für den Privatbedarf besorgt und im Sommer Hummer gefangen.
Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln, und ihre Haut begann zu prickeln, weil der Gedanke sie glücklich machte. Alles erinnerte sie an Lily. Als sie den Wagen des Eismanns ins Visier nahm, dachte sie wieder an Lilys bevorzugte Geschmacksrichtung: gebrannte Mandeln. Als sie das Hummerboot erspähte, sah sie ihre Schwester vor sich, wie sie gelacht hatte, einen Hummer in jeder Hand, und sie als Boten der Meerjungfrauen bezeichnet hatte.
Am anderen Ende des Strandes entdeckte sie eine sich nähernde Gestalt auf dem Weg vom Little Beach. Dunkel und überschattet durch die Entfernung, dachte sie einen Moment lang, es sei Lily. Lily, die kam, um sie wiederzusehen, abzuholen, mit ihr aufs Meer hinauszusegeln. Aber es war nicht Lily; es war Sam.
Ohne den Blick von der Silhouette zu lösen, griff Dana nach dem Feldstecher. Das Okular an ihr Gesicht gedrückt, suchte sie den Strand ab. Da war er; der Feldstecher zitterte, als sie ihn im Visier hatte. Er kam den steilen Pfad
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