Schilf im Sommerwind
ihrer Töchter und der großen Liebe ihres Lebens; die Ehe währte zweiunddreißig Jahre, bis ihr Mann an einem Herzanfall verstarb.
Sie hatte schon von Kindesbeinen an für ihn geschwärmt. Sie hatten gemeinsam in New Hampton die Schule besucht. In der dritten Klasse hatte er einmal an einem verschneiten Wintermorgen ihren Mantel in das Geäst eines Baumes hinaufgeworfen, und ihre Großmutter hatte sie mit dem Sprichwort getröstet: Was sich liebt, das neckt sich. Er schenkte ihr seine Pfeilesammlung und die Orden seines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg. Ihre Mutter hatte sie gezwungen, sie zurückzugeben, aber da war ihr Schicksal – und ihre Liebe – bereits besiegelt.
Mit zweiundzwanzig hatten sie geheiratet und sich umgehend Kinder gewünscht. Trotz aller Bemühungen klappte es nicht. Sie litt, wenn sie Monat für Monat den rostroten Fleck entdecken musste; wenn sie hörte, dass eine von Jims Schwestern wieder schwanger war, und wenn sie ihren alten Schulfreundinnen begegnete, die Kinderwägen schoben.
Jim wurde Soldat im Zweiten Weltkrieg. Als Navigator und Bombenschütze gehörte er dem Achten Regiment der Air Force an, ein echter Held. Alle waren stolz auf ihn, besonders Martha. Er flog Einsätze über der Normandie, Köln und Dresden. Der Verlust an Menschenleben war schrecklich, und sie verbrachte den ganzen Krieg im Zustand heilloser Angst. Einmal wurde seine Maschine über dem besetzten Frankreich abgeschossen, und er konnte sich mit dem Fallschirm retten, der sich jedoch im Geäst eines Baumes verhedderte. Während er dort hing, eine lebende Zielscheibe, die von den Zweigen baumelte, hatte er den Atem angehalten, da ein ganzes Bataillon deutscher Soldaten direkt unter ihm Rast machte.
Martha hatte die Geschichte erst Monate später erfahren, als er vermisst wurde und man allgemein davon ausging, er sei tot. Das war die schlimmste Zeit ihres Lebens. Sie lag den ganzen Tag im Bett, bei geschlossenen Vorhängen, die Hände gegen die Brust gepresst, als wolle sie verhindern, dass ihr das Herz brach. Allein das Wort Witwe, denn als solche wähnte sie sich, war schrecklich, aber das Schlimmste war der Gedanke, den Rest ihres Lebens ohne Jim zu verbringen, und ohne die Kinder, die zu bekommen sie die Hoffnung nie aufgegeben hatte.
Und dann war eines Tages ein Wunder geschehen: das Telefon klingelte, und das Elend hatte ein Ende. Jims Stimme drang vom anderen Ende der Leitung an ihr Ohr, direkt aus einem Lazarett in London. »Ich bin in Sicherheit, Liebling. Ich lebe, ich liebe dich, und ich komme nach Hause.«
Und so war es. Sie hatten umgehend wieder damit begonnen, an der Verwirklichung ihres Kinderwunsches zu arbeiten, doch nach sechs erfolglosen Monaten hatte sich Marthas innere Einstellung verändert. Was für eine Rolle spielte es letztendlich, wenn sich kein Nachwuchs einstellte? Sie hatten einander. Sie liebte Jim über alles, und er trug seine Frau auf Händen. Sein Dachdeckergeschäft florierte, und ohne Kinder hatte Martha viel Freizeit, die sie damit verbrachte, die Strände nach Muscheln und Treibholz abzusuchen.
Manchmal fertigte sie Skulpturen aus den Gegenständen, die sie sammelte. Für sie war es ein Hobby, von Kunst zu sprechen fand sie zu hochtrabend. Jim ermutigte sie gleichwohl, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen, und nach einer Weile begann sie, ihre Arbeiten bei kunsthandwerklichen Ausstellungen in der Umgebung zu zeigen. Als sie Marthas Elternhaus in Hubbard’s Point erbten, fing sie an, ihre Strand-Skulpturen über den örtlichen Frauenclub zu verkaufen, beim Clambake-Nachbarschaftsfest, wo auf heißen Steinen Muscheln gebacken wurden, oder bei den Feierlichkeiten anlässlich des Vierten Juli. Ihre Freunde zahlten einen guten Preis für diese Unikate aus Treibholz, die mit alten Fischernetzen dekoriert und mit bunten, vom Meer blank polierten Glasscherben, Uferschnecken, Scheidenmuscheln und getrocknetem Seetang geschmückt waren. Obwohl ihre Skulpturen ein gewisses Maß an Übereinstimmung zeigten, verkauften sie sich sehr gut. Zu ihrer eigenen Verwunderung war sie in der gesamten Strandregion bald als ›die Künstlerin‹ bekannt.
»Wozu brauche ich ein Kind, wo ich doch meine Arbeit habe«, pflegte sie zu sagen, wenn sie auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen wurde. Sie staunte immer wieder, wie taktlos manche Leute waren, aber diese Antwort verschlug sogar ihnen die Sprache. Inzwischen glaubte sie fast selber daran – meistens, jedenfalls. Doch bestimmte
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