Schilf im Sommerwind
Situationen – beispielsweise der Anblick einer glücklichen Familie auf der Strandpromenade oder einer Mutter, die ihren Kindern Schwimmen beibrachte – warfen sie aus der Bahn. Sie bekam Kopfweh oder fühlte sich erschöpft, musste zum Cottage hinaufgehen und sich hinlegen, bis die Beschwerden vorüber waren.
Und dann geschah ein weiteres Wunder: Nach fünfzehn Jahren Ehe, als sie beide siebenunddreißig Jahre alt waren, kündigte sich bei Martha und Jim Underhill Nachwuchs an. An einem Tag zu Beginn des Frühlings hatte Martha zum ersten Mal ein morgendliches Unwohlsein verspürt. Die Übelkeit war überwältigend. Sie ernährte sich nur noch von Salzgebäck und Ginger Ale, das ihr Jim mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks brachte. Wenn überhaupt, so war die Erfahrung für ihn noch traumatischer als für sie. Da die Gummilösung, mit der sie ihre Skulpturen zusammenfügte, den Brechreiz noch verstärkte, stellte sie die Arbeit ein.
Neun Monate später hatte sie ihre wahre Berufung im Leben entdeckt: Dana eine gute Mutter zu sein. Martha hatte sich rundum glücklich gefühlt, zufrieden, staunend und erfüllt. Die Arbeit an ihren Skulpturen hatte sie vorläufig eingestellt. Hin und wieder hatte sie mit einem Objekt angefangen, dann aber festgestellt, dass es ihr mehr Spaß machte, ihre Zeit mit Dana zu verbringen. Es hatte ihr vollauf genügt, Hausfrau und Mutter zu sein, ihre Tochter zu lieben. Und sie wünschte sich ein weiteres Kind.
Lily war genau zwei Jahre und zwei Monate nach Dana geboren worden.
Als Martha nun im Schaukelstuhl auf der Veranda saß und auf den Long Island Sound hinaussah, dachte sie an jene Zeit zurück. In den ersten Jahren war sie kaum dazu gekommen, an ihren Skulpturen zu arbeiten. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre ganze Liebe und schöpferische Gabe in ihre Familie einbrachte, und hatte umgehend mit einem neuen Objekt begonnen.
Es war ihr freilich selten gelungen, es auch zu Ende zu bringen. Die Mädchen wollten mit ihr spielen, oder Martha musste Besorgungen machen, oder Jim und sie hatten endlich einmal Zeit für sich alleine. Als sich herausstellte, dass die Mädchen ihr künstlerisches Talent geerbt hatten, förderte Martha sie nach besten Kräften. Sie war stolz auf ihre beiden Töchter, und wenn irgendein Idiot im Postamt fragte, ob sie nicht lieber einen Stammhalter bekommen hätte, blickte sie ihn durchdringend an und erwiderte lächelnd: »Ganz sicher nicht!«
Wenn sie die Kinder nur früher bekommen hätte, dachte sie nun, während sie hin und her schaukelte und zu der vom Licht des Halbmonds beschienenen Bucht am Little Beach hinübersah. Wenn sie jetzt nicht so hochbetagt wäre, würde sie die ihr auferlegten Schicksalsschläge vielleicht besser verkraften. Die größte, ihr noch verbliebene Freude im Leben war Maggie, ihre chinesische Shar-pei-Hündin.
Martha Underhill war achtundsiebzig Jahre alt. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, erkannte sie ihr eigenes Gesicht kaum wieder. Es bestand nur noch aus Falten und Runzeln, ihr Kinn hatte seine klaren Konturen eingebüßt, die Augen hatten ihren strahlenden Glanz verloren. Diese Augen machten ihr Angst. Sie sahen aus wie bei einem Menschen, der an einer Schützengraben-Neurose litt, als hätte sie das Schlimmste durchgemacht, das einem im Leben widerfahren kann.
Sie war durch die Hölle gegangen, keine Frage.
Rückblickend fielen ihr fünf schreckliche, grauenvolle Stationen in ihrem Leben ein. Jene Kriegswochen, in denen Jim als verschollen galt; der Tod ihrer Mutter; der Tod ihres Vaters; der Verlust von Jim, der ein Schock für sie gewesen war; und – sie konnte nicht einmal jetzt den Gedanken daran ertragen – Lily zu verlieren.
Lily Rose Underhill Grayson. Marthas zweitgeborenes Kind, ihre unkompliziertere Tochter, ihr Sonnenschein. Allein ihr Anblick hatte jedem in der Familie ein Lächeln entlockt. Dana hatte sie vom ersten Augenblick an geliebt; Martha und Jim hatten mit den üblichen Rivalitäten unter Geschwistern gerechnet, aber sie blieben aus. Dana und Lily waren Wasserratten, tummelten sich immer gemeinsam am Strand, ermunterten sich gegenseitig, weiter hinauszuschwimmen, schneller zu segeln. Martha war überzeugt, dass Dana Lilys wegen immer wieder Wasser gemalt hatte – einen Querschnitt der Meereslandschaften, weil sie und ihre Schwester am Meer groß geworden waren. Sie hatten es geliebt, und es hatte Lily geholt.
Sanft schaukelnd, mit Maggie an ihrer Seite,
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