Schilf im Sommerwind
wenn Quinn sich leise aus dem Staub gemacht hätte. Sie umarmte den Wind, tanzte mit ihm, drehte sich auf der Spitze des Felsens mit ihm im Kreis. Sie blickte auf das Meer hinaus und den Strand entlang zu dem überwucherten Waldweg; vor ihrem inneren Auge schienen sich Szenen und Geschichten aus dem Leben mit Quinns Mutter abzuspulen, unsichtbar für ihre Nichte und alle anderen.
Seltsam war, dass Quinn auch bestimmte Szenen vor sich sah. Dieses Fleckchen Erde gehörte ihr und ihrer Familie. Der Strand war ihr persönlicher Besitz, kein anderer Ort konnte sich mit ihm messen. Dort drüben waren die Klippen, wo sie mit ihrem Vater Muscheln gesammelt hatte, die Stelle, wo der Giftsumach wuchs, dem Allie ihren Aufenthalt im Krankenhaus zu verdanken hatte, und das Schilf, das ihre Mutter in jeder Jahreszeit zu malen pflegte, jenseits der kleinen Bucht von Hubbard’s Point, wo ihr Haus stand. Und zu ihren Füßen, auf dem Felsen, der dem Wasser am nächsten war, lag das Geschenk, das sie stets mitbrachte und hier ließ, in aller Heimlichkeit.
»Ich komme nicht mit nach Frankreich«, verkündete Quinn entschlossen und presste die Handflächen gegen ihr Tagebuch.
»Und ich bleibe nicht hier«, entgegnete Tante Dana, während sie über das Wasser blickte wie die Galionsfigur eines Schiffes.
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4
W ährend der letzten Tage hatte Sam Trevor den Vorsitz über Repetitorien und Prüfungen geführt und an einer Abschlussfeier der Fakultät teilgenommen. Er hatte Joe und mehrere Kollegen in Nova Scotia und Woods Hole per E-Mail von seinen Plänen für den Sommer in Kenntnis gesetzt. An einem Abend war er mit Jenny Soames ins Kino gegangen. Aber in seinem Hinterkopf rumorte die ganze Zeit das unangenehme Gefühl, etwas Wichtiges versäumt zu haben. Er konnte praktisch hören, wie Augusta ihm sagte, was zu tun sei.
Deshalb stieg Sam am Donnerstag in seinen VW -Bus und fuhr nach Hubbard’s Point, um sich von Dana zu verabschieden, die an diesem Tag mit den Mädchen nach Frankreich zurückfliegen würde. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Frische Luft drang durch die geöffneten Fenster des Wagens. Bis Juli waren es nur noch wenige Tage, und der Hochsommer schien zum Greifen nahe. Seine Lehrtätigkeit war für dieses Jahr beendet, der praktische Teil seiner Forschungsarbeit begann, und eigentlich hätte Sam in Hochstimmung sein müssen.
Doch er fühlte sich derart angespannt, als befände er sich selbst mitten in der Abschlussprüfung. Auf der Interstate 95 herrschte dichter Verkehr. Er hörte Augustas Stimme, die ihm riet, notfalls auch rechts zu überholen. Im Stau auf der Saltonstall Bridge kam er nur schrittweise voran und fragte sich verzweifelt, um welche Zeit ihr Flug gehen mochte. Sein Herz hämmerte wie bei einem Mako-Hai, der mit peitschender Schwanzflosse versucht, an die menschliche Beute im Schutzkäfig zu gelangen. Was war, wenn er sie verpasste?
Wie sollte es dann weitergehen?
Er musste sich die Frage stellen. Wie kam er dazu, sich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen? Gerade als Collegeprofessor musste er doch wissen, wie es um die Lehrer-Schüler-Beziehung bestellt war und dass man sich nicht an alle Studenten erinnern konnte, die im Laufe der Jahre kamen und gingen. Er war nur einer von vielen Jugendlichen in ihrem Segelkurs gewesen. Und ihre Nichten hatte er nie kennen gelernt. Aber während der Fahrt stellte er sich Lilys Gesicht an jenem Abend im Theater vor und wusste, dass er Dana noch einmal sehen musste. Sie hatte behauptet, er könne nicht wissen, was sie empfand, aber das war ein Trugschluss.
Er verstand sie, dessen war er sich sicher.
»Seid ihr fertig?« Dana blickte zum dritten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten auf ihre Uhr.
»Wo ist Kimba?« In Allies Stimme schwang ein Anflug von Panik mit. »Ich kann ihn nicht finden.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Martha beschwichtigend. »Ich suche ihn.«
»Wickelkind«, grollte Quinn. »Schleppt immer noch dieses blöde Katzenvieh mit sich rum.«
»Kimba ist kein blödes Katzenvieh!« Allie zitterte vor Entrüstung.
»Ist er doch! Er hat schon seit Jahren keine Füllung mehr, und das Fell hast du ihm vor lauter Schmusen abgerubbelt. Er ist grau, Allie! Überall grau und nicht orangefarben, wie früher.«
»Halt die Klappe!« Allie stürzte sich auf Quinn. »Sag so was nie wieder über Kimba. Er ist ein Löwe, und Mommy hat ihn mir geschenkt. Wie kannst du nur, wie kannst du es wagen?«
»Schafft sie mir vom
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