Schilf im Sommerwind
aufgewachsen war und von denen die meisten inzwischen selber Kinder hatten. Allen voran Marnie McCray – inzwischen Marnie Campbell. Sie wohnte gegenüber, hatte zwei Töchter und würde wissen, was zu tun war. Aber Marnie und die beiden Mädchen hielten sich nur im Sommer in Hubbard’s Point auf und waren noch nicht eingetroffen, deshalb beschloss Dana, ihrer Intuition zu folgen: Sie bat Allie, alleine nach Hause zu gehen, und begab sich auf die Suche nach Quinn.
Quinn hörte, wie Dana den Weg entlangkam, durch das Gestrüpp. Hinter einem großen Felsen kauernd, um Tagebuch zu schreiben, wusste sie auf Anhieb, als sie das Brechen von Zweigen und das Rascheln von Blättern vernahm: das konnte nur Tante Dana sein.
Zwischen ihnen hatte schon immer ein rätselhaftes, stillschweigendes Einvernehmen bestanden. Seit sie denken konnte, hatten sie sich auf eine Weise miteinander verbunden gefühlt, die sie beide nicht begründen konnten. Quinn liebte ihre Mutter und ihren Vater, ohne Zweifel. Aber das erste Gesicht und die ersten Augen, an deren Blick sie sich erinnerte, hatten Tante Dana gehört.
Natürlich gab es eine logische Erklärung. Als bei ihrer Mutter die Wehen begonnen hatten, war ein Suchtrupp aufgebrochen, um ihre Schwester zu benachrichtigen, die gerade am Squibnocket Point am anderen Ende der Insel malte. Tante Dana war in den erstbesten Wagen gesprungen und gerade noch rechtzeitig in der Klinik eingetroffen, um die neue Erdenbürgerin als Erste zu begrüßen.
Im Lauf der Jahre hatte Tante Dana sie nach Strich und Faden verwöhnt. Sie hatte ihr die ausgefallensten Geschenke mitgebracht: französische Kleider, weiße Stiefel, Spielsachen, die kein anderes Kind hatte, ein pinkfarbenes Fahrrad und eine kleine Tigerkatze. Sobald sie das Haus betrat, ließ Quinn alles stehen und liegen, um sich in ihre Arme zu stürzen, und war für den Rest des Aufenthalts nicht mehr von ihrer Tante loszueisen.
Es war oft vorgekommen – wenn sie schläfrig und rundum mit der Welt im Reinen war –, dass sie sich versprochen und ihre Tante versehentlich Mommy genannt hatte. Der Irrtum währte nicht länger als eine Sekunde; Quinn wusste, dass er durch die Wärmflasche, die weiche Decke, den Geruch der Malfarben und den vertrauten Blick aus den klaren blauen Augen ihrer Tante hervorgerufen worden war.
Dana hatte ihr das Segeln beigebracht. Ihre Mutter natürlich auch, aber mehr noch ihre Tante. Quinn hatte den Instinkt bewundert, mit dem ihre Tante den Wind nutzte, und wünschte sich, sie besäße ebenfalls diese Gabe. Sie hatte ihr gleichwohl nachgeeifert, soweit es Durchhaltevermögen, Orientierungssinn und Wettbewerbsgeist betraf.
»Quinn!«, rief ihre Tante. »Ich weiß, dass du hier bist.«
Quinn presste sich so flach wie möglich gegen den ausladenden Felsen, bemüht, mit den Schatten und dem Sand zu verschmelzen. Wellen umspielten ihre Füße. Das in Plastik gewickelte Tagebuch unter den Arm geklemmt, grub sie in fieberhafter Eile ein Loch knapp oberhalb der Gezeitenlinie.
»Quinn …«
Quinn trat hinter dem Felsen hervor und stand Tante Dana gegenüber. Allein ihr Anblick löste ein Engegefühl in der Brust und ein Kribbeln im Bauch aus. Quinn blickte auf ihre eigenen Füße hinunter, auf die Zehen, zählte immer wieder bis zehn. Ihr Herz war von einer Flutwelle erfasst worden, und wenn sie nicht aufpasste, bestand die Gefahr, dass sie mitgerissen und weggeschwemmt wurde, weit, weit weg, bis Japan oder sonst wohin.
»Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde«, sagte Tante Dana mit ruhiger Stimme.
»Warum?«
»Weil ich früher auch immer hier war.«
»Das ist ein öffentlicher Strand«, erwiderte Quinn kalt.
Tante Dana sah sich um. Sie runzelte die Stirn, ihre Augen waren groß. Eines musste man ihr lassen: Mit ihrem untrüglichen Sinn für Humor brachte sie ihre Nichten zum Lachen, und Quinn ahnte bereits, was sie sagen würde, bevor sie den Mund aufmachte. »Ich sehe aber niemanden.«
»Das liegt daran, dass wir erst Juni haben und die meisten Leute erst im Hochsommer nach Hubbard’s Point kommen.«
»Wir haben den Strand also ganz für uns.«
»Noch drei Tage.«
»Wir gehen nicht auf Nimmerwiedersehen fort, Quinn. Wir können jederzeit zu Besuch herkommen – sooft du willst.«
»Wie wär’s mit jeden Tag? So oft will ich nämlich.«
Tante Dana trat einen Schritt vor, und Quinn nahm eilends auf der Stelle Platz, an der sie das Tagebuch vergraben hatte, wie eine Henne, die auf ihren
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