Schilf im Sommerwind
Quinn abgelenkt und wünschte sich, sie hätte besser und klüger reagiert. Sie warf einen Blick auf die Uhr und ging in die Küche, um auf das Taxi zu warten, wobei sie sich fragte, warum sie plötzlich das Gefühl hatte, ihre Entscheidung, Hubbard’s Point zu verlassen, sei falsch.
Quinn ließ sich auf ihr Bett fallen, auf den Bauch, und hielt die Fernbedienung in Richtung Bildschirm. Würde sie in Frankreich ihren eigenen Fernseher haben? Nicht sehr wahrscheinlich. Immer noch auf hundertachtzig nach der Szene mit ihrer Tante, drückte sie auf die Play-Taste, und der Film begann.
Tante Dana meinte also,
Die kleine Meerjungfrau
sei ihr Lieblingsfilm! Ha, dann sollte sie lieber noch einmal gründlich nachdenken. Sie drückte die Rewind-Taste, hielt das Video an der besten Stelle an und betätigte erneut die Play-Taste.
Stille. Ein langer Korridor. Zuerst tauchten die großen Füße eines Mannes auf. Man hörte seinen Atem. Schatten bewegten sich im klaren Licht des Sonntagmorgens. Das Flüstern einer Frauenstimme: »Mach schon. Da kommt sie!«
Quinns Herz begann zu klopfen. Die Spannung war atemberaubend, wie immer. Der Mann ergriff die Hand der Frau – da! Man sah auf dem Bildschirm, wie sich ihre Finger verschränkten, was bedeutete, dass er die Kamera in einer Hand hielt. »Komm her zu uns, Liebes«, sagte die Frau nun laut; Freude und Aufregung schwangen in ihrer Stimme mit. »Quinn! Hier sind wir!«
Sechs weitere Sekunden: sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins – und dann, Auftritt des Stars. Aquinnah Jane Greyson! Ein Kind der besonderen Art. Keine Zähne, keine Haare, aber verteufelt schnell auf allen vieren unterwegs. Sie fuchtelt mit den Armen, keilt mit den Füßen nach hinten aus, krabbelt in Windeseile den Korridor entlang. Sie strahlt ihre Eltern an, erobert Hubbard’s Point, verleibt es sich ein.
»Da, da, da, da«, gluckst sie.
»Das heißt Dad«, erklärt der Mann stolz. »Sie kann schon meinen Namen sagen.«
»Natürlich«, erwidert die Frau und nimmt das Kind auf den Arm. Nun richtet sich die Kamera auf beide: das helle Licht des Sonntagmorgens ergießt sich über das flachsgelbe Haar der Mutter und den kahlen Schädel des Kindes, über die Zeitungen, die auf dem nackten Holzfußboden verstreut liegen, und den Long Island Sound, der vor dem Fenster in der Sonne glitzert.
»Da-da-da«, lacht das Kind, streckt die Arme nach dem Gesicht des Vaters aus und stößt dabei gegen die Kamera, so dass sie zu wackeln beginnt.
»Sag Mommy«, fordert ihr Vater sie liebevoll auf. »Komm, meine Süße. Sag ›Mommy‹, damit sich deine Mutter nicht übergangen fühlt.«
»Ich fühle mich nicht übergangen.« Ihre Mutter lächelt, die Augen von Liebe erfüllt. Quinn hielt das Video an. Sie betrachtete das körnige Bild, prägte sich jedes Merkmal in den Gesichtern der beiden ein.
»Mommy«, flüsterte sie, nur für den Fall.
Am anderen Ende des Ganges, nicht in Film-, sondern in Echtzeit, hörte sie ihre Schwester weinen. Grandma versuchte, sie zu trösten, versprach ihr, Kimba per Express nach Frankreich zu schicken, sobald er gefunden war. »Ich kann nicht ohne ihn weg«, schrie Allie. »Ich kann nicht, ich kann nicht.«
Quinn versuchte, ruhig durchzuatmen. Sie spulte das Video zurück, sah es sich noch einmal an, aber beim zweiten Durchlauf hatte es seinen Zauber verloren. Auch wenn es möglicherweise das letzte Mal für Monate war, dass sie sich ihren Lieblingsfilm anschauen konnte. Katy Horton, ihre beste Freundin, hatte ihr erzählt, dass man amerikanische Videofilme in Frankreich nicht abspielen konnte. Das sei eine Sache des Geldes, wie die meisten Dinge in Frankreich. Die Franzosen wollten ihre eigenen Produkte an den Mann bringen, und deshalb seien amerikanische Videos und französische Rekorder nicht kompatibel.
Während Allie jammerte, hatte Quinn das Gefühl, als würde sie innerlich dahinschmelzen. Das Schluchzen ihrer Schwester schlug ihr auf den Magen. Es fiel ihr schwer, sich zurückzuhalten und nicht den Flur entlangzulaufen, um Abbitte zu leisten, aber es war zu Allies Bestem. Als sie sich vom Bett herunterrollte, fiel sie praktisch auf ihren Koffer. Sie öffnete den Reißverschluss an einer Ecke, schob die Hand hinein und tastete herum.
Sie zog beide gleichzeitig heraus.
Die Ariel-Puppe mit dem Bikini-Oberteil aus Schildpatt, der Schwanzflosse der Meerjungfrau und einer Frisur, die Quinns nicht unähnlich war – mit so vielen Zöpfen, wie sie flechten konnte –, und
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