Schilf im Sommerwind
Hals!«, schrie Quinn. »Sie bringt meine Haare durcheinander. Finger weg von meinen Haaren!«
»Mädels«, stöhnte Martha und versuchte, die Streithähne zu trennen, als es Dana gelang, von hinten die Arme um Quinns Taille zu schlingen und sie wegzuzerren. Die braunen Haare des Mädchens, zu dreiundsechzig in alle Himmelsrichtungen abstehenden, mit Gummiband fixierten Zöpfen geflochten, die sich jetzt im tödlichen Griff von Allies Fäusten befanden, rochen nach Schweiß und Salzwasser. Dana hätte gerne gewusst, wann ihre Nichte sie das letzte Mal gewaschen hatte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, danach zu fragen.
»Aua, aua!«, schrie Quinn mit Tränen in den Augen. »Helft mir doch!«
»Nimm zurück, was du über Kimba gesagt hast!«, heulte Allie und packte noch fester zu. »Nimm es zurück, sag, dass er kein blödes Katzenvieh ist!«
»Willst du, dass sie loslässt oder nicht?«, flüsterte Dana Quinn ins Ohr, während sie und ihre Mutter versuchten, die beiden zu trennen.
»Na gut, er ist kein gottverdammtes blödes Katzenvieh!«, kreischte Quinn, und Allie ließ auf der Stelle los, sank schluchzend zu Boden, ein Häufchen Elend.
»Ich muss ihn finden. Ich kann nicht ohne ihn weg«, weinte sie.
»Natürlich nicht.« Martha rappelte sich hoch und streckte Allie die Hand hin. »Komm. Wir suchen das ganze Haus ab. Vermutlich hast du ihn heute Morgen, als du aufgestanden bist, unter der Bettdecke vergessen.«
»Da habe ich schon nachgeschaut.« Allie ließ sich von ihrer Großmutter hochziehen. Dana und Quinn sahen ihnen nach, als sie die Treppe hinaufgingen.
Das Wohnzimmer war von Sonnenlicht durchflutet. Es ergoss sich über Hubbard’s Point, traf die Klippen, wurde vom Wasser reflektiert. Vor vielen Jahren, als ihre Eltern das Cottage winterfest gemacht hatten, waren die alten Schiebefenster an der Vorderseite durch moderne ersetzt worden. Ein weitläufiges Panorama und ein fantastisches Licht machten den verlorenen, nostalgischen Charme wett. Dana, die Quinn immer noch von hinten umklammerte, war tief berührt von dem Anblick.
»Das ist ein kleiner Vorgeschmack darauf, was dich erwartet, wenn du uns nach Frankreich mitnimmst.« Quinn riss sich los und strich sich über die Haare. Einige Gummibänder hatten sich bei dem Handgemenge gelöst, und sie schickte sich an, ihre Zöpfe wieder zu befestigen.
»Und was erwartet mich?«
»Dass Allie zehn Mal am Tag hysterisch wird.«
»Hm. Ich fand nicht, dass sie ausgerastet ist.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, mich an eine Puppe namens Ariel zu erinnern«, sagte Dana und reichte ihr ein Haargummi, das auf dem Sofa gelandet war. »Sie bedeutete dir das Gleiche wie Kimba für Allie. Du hast sie keine Minute aus der Hand gelegt, konntest nicht ohne sie einschlafen.«
Quinn spähte mit zusammengekniffenen Augen zu ihr herüber. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch dann biss sie die Zähne zusammen und werkelte weiter an ihren Haaren herum.
»Das war dein Lieblingsfilm.
Die kleine Meerjungfrau
– du hättest den ganzen Tag vor dem Fernseher gesessen, wenn wir dich gelassen hätten. Und dann fuhren deine Mutter und ich eines Tages in die New London Mall, dieses riesige Einkaufszentrum, und was glaubst du, was wir im Schaufenster eines Ladens mit Grußkarten entdeckten?«
»Grußkarten?«, sagte Quinn in ihrem besten sarkastischen Ton.
»Ariel«, antwortete Dana ruhig.
Quinn zuckte zusammen, während sie den Schaden an ihren Zöpfen behob. Dana sah es, machte aber keine Anstalten, sich ihr zu nähern, um sie in die Arme zu schließen oder sie zu ermutigen, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie wusste, dass ihre Nichte unter Hochspannung stand: kein Wunder in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihrer Kindheit, ihrer Heimat, ihrem Zuhause Lebewohl sagen musste. Dana wünschte sich, Lily wäre in der Lage, ihr die richtigen Worte zu sagen. Sie hielt den Atem an und wartete auf die Erleuchtung.
Wie immer die weisen Worte gelautet hätten, sie kamen zu spät. Bevor Dana weiterreden konnte, machte Quinn ihrem Zorn mit einem unterdrückten Aufschrei Luft und stürmte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Danas Blick schweifte zum Kaminsims hinüber, glitt wahllos über Fotos, Muscheln und die zerbrochene Atmos-Uhr, eine der alten Treibholz-Skulpturen ihrer Mutter. Irgendetwas fehlte in dem bunten Sammelsurium, aber sie hätte nicht sagen können, was.
Sie wurde von dem Gedanken an die letzten Minuten mit
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