Schillerhoehe
Aber warum sollte er ihn einweihen? Diese Sache war für einen Agenten wie diesen Selldorf eine Nummer zu groß. Er selbst wollte Erika Scharf und Marbach zusammenbringen, deshalb hatte er sich auch dafür eingesetzt, die Autorin während ihrer Tournee durch Deutschland auf jeden Fall auch in der Schiller stadt lesen zu lassen. Sein Plan war so offensichtlich, dass sogar die örtliche Presse darauf angesprungen war.
»Na, dann lesen Sie mal den Marbacher Kurier und bringen sich auf den neuesten Stand«, sagte er zu Sell dorf.
Plötzlich öffnete sich die Tür. Ilse Bäuerle atmete schwer. So hatte Dollinger sie noch nie erlebt.
»Verzeihen Sie, Herr Direktor, der Herr Schäufele will Sie unbedingt sprechen.« Ilse Bäuerle war es offen bar peinlich, ihm diese Bitte anzutragen. Ihr Gesicht war rot angelaufen, was auf heftige Abwehrkämpfe im Vorzimmer schließen ließ.
»Schäufele, welcher Schäufele in Gottes Namen? Ich hab jetzt überhaupt keine Zeit!«, bellte Dollinger. Er mochte es nicht, von Angestellten gestört zu werden. Er hätte die Tür wohl einfach zugeschlagen, wenn er in der Störung nicht doch noch eine gute Gelegenheit gesehen hätte, Utz Selldorf loszuwerden.
»Der Bibliothekar aus der Handschriftenabteilung«, hauchte die Sekretärin eingeschüchtert zurück.
»Die Angestellten sollten sich am Samstagvormit tag vom Dienst erholen und nicht noch in der Direk tionsabteilung Überstunden verursachen«, sagte Sven Dollinger halb im Scherz. Endlich erinnerte er sich an Schäufele. Normalerweise pflegte er Anfragen von Mit arbeitern des unteren Segments mit einer Mindestwar tezeit von einer Woche zu belegen. Er wollte mit die ser Methode die Dringlichkeit solcher, wie er meinte, ›menschlich, allzu menschlichen Kinkerlitzchen des Alltags‹ entschärfen. So sah er es überhaupt nicht als seine Aufgabe an, Streitigkeiten unter seinen Mitarbei tern zu schlichten. Dies sollten gefälligst die Abtei lungsleiter erledigen, die es überhaupt so weit hatten kommen lassen.
Franz Schäufele, altgedienter Bibliotheksassistent, stand schon in der Tür. Er hörte den Worten seines Vorgesetzten aufmerksam zu und schien auf eine Gele genheit zu warten, etwas sagen zu dürfen. Schüchtern hob er jetzt die Hand, seine Stimme zitterte, als er sagte: »Entschuldigung, im Keller liegt eine Leiche, die Poli zei ist schon da.«
Peter Struve fuhr mit seinem Passat vor das Schillermu seum. Er genoss es jedes Mal, dort parken zu dürfen. Bei Privatbesuchen in dem nagelneuen Literaturmu seum der Moderne, auch LiMo genannt, hatte er sich gefragt, ob man den architektonischen Dreiklang von SchillerNationalmuseum, LiMo und dem Gebäude des Literaturarchivs nicht durch ein Parkverbot besser zur Geltung bringen sollte. Letztlich fand jedoch auch er die liberale Praxis nicht nur heute sehr hilfreich, er gewann ihr auch eine geistesgeschichtliche Note ab: Freies Parken für freie Bürger, das hatte etwas Demo kratisches, auch wenn es der Werbegag eines Auto mobilklubs sein könnte. Mit Unbehagen dachte der Kommissar an die wenig versteckten Botschaften unge hemmten Fahrzeuggebrauchs, die ihm aus der monat lich erscheinenden Mitgliederzeitschrift des Klubs ent gegenblitzten, bei dem er noch Mitglied war. Struve schaute beim Aussteigen ins Antlitz des Dichters, der regungslos auf seinem Denkmal stand. Fast schien es dem Kommissar, als ob in Schillers Gesichtszügen ein griesgrämiges ›Nein‹ zu allen Automobilen dieser Erde geschrieben stünde.
Wie sich herausstellte, hatte der Dienst habende Bib liothekar Alarm geschlagen, kurz nachdem er die Lei che von Dietmar Scharf in einem schmalen Zwischen gang im Keller des Literaturinstituts entdeckt hatte. Struve ließ sich zum Tatort führen und betrachtete den Toten in aller Ruhe. Die Kollegen von der Spurensi cherung würden bald eintreffen, er mochte die Hek tik nicht, die das emsige Hin und Her verbreitete. Vier Pfeile hatten Scharf durchbohrt, sie steckten alle noch in seinem Leib. Struve fiel auf, dass die Geschosse relativ weit unten im Körper des Mannes eingedrungen waren: zwei in der Magengrube, eins auf Höhe des Bauchna bels und ein weiteres im Bereich der Genitalien. Der Tote musste qualvoll verblutet sein. Der Kommissar entdeckte einen großen Apfel, der neben der Leiche in dem ansonsten völlig leeren Gang lag. Er fragte sich, wo der ältere Bibliothekar blieb, der ihn hierhin
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