Schillerhoehe
Sinn. Dass ausgerechnet dieser Querulant ihn angerufen hatte, mochte etwas Gutes haben: Wahr scheinlich würde er den Fall nicht mit ihm bearbeiten müssen. Es könnte aber auch sein, dass der Zyniker ihn von Stuttgart aus ständig mit neuen Informationen aus der Zentrale fütterte. Er nahm sich vor, sich in Gelassenheit zu üben.
Der Kaffee schmeckte Sven Dollinger an diesem Morgen nicht.
»Was ist das denn für eine Brühe? Viel zu schwach«, rief er gereizt, als seine dienstbeflissene Sekretärin Ilse Bäuerle einige Aktenordner hereintrug und mit einer Geste der Entschuldigung ablegte. Der Direktor des Deutschen Literaturarchivs kämpfte gegen die Müdig keit. Nach der Lesung gestern war es spät geworden, heute wartete im Büro noch Kleinkram, wie er es gerne nannte. Dollinger machte an den Wochen enden gewöhnlich einen großen Bogen um die Gebäude rund um das Schillerdenkmal. Er brauchte mit seinen 60 Jah ren den Abstand. ›Lesen ist nicht alles‹, hatte er öfter zu Ilse Bäuerle gesagt, die früher als Buchhändlerin in Heidelberg gearbeitet hatte und gar nicht genug von der Belletristik bekommen konnte. Sie wünschte sich oft die alten Zeiten zurück, als sie noch mit ihren Kunden munter über ihre Neuentdeckungen parlieren konnte. Aber als ihr Laden vor zehn Jahren Konkurs anmeldete, musste sie sich eine andere Betätigung suchen, – und landete als Vorzimmerdrache, wie sie sich im Freun deskreis selbst gerne scherzhaft nannte, bei dem Ins titutsdirektor.
Dollinger brauchte aus seiner komfortablen Dienst wohnung in der Haffnerstraße zu Fuß keine zwei Minuten zur Schillerhöhe. Als er an diesem Samstag dort ankam, packte er eine der teuren Zigarillos aus, die er bei einem Marbacher Tabakimporteur zum Vor teilspreis gekauft hatte. Er gönnte sich diesen kleinen Luxus selten. In der Öffentlichkeit rauchte er nie. Der Direktor wollte ein gutes Vorbild abgeben. Seine Mit arbeiter hielt er gerne durch stichprobenartige Kont rollen an der kurzen Leine, außerdem genoss er seine Ansprachen vor versammelter Mannschaft, wobei er gerne davon sprach, einem Team mit flachen Hierar chien vorzustehen.
Gedankenverloren blickte Sven Dollinger durch das geöffnete Fenster auf die Statue von Friedrich Schiller. Der Direktor nuckelte an seinem Zigarillo, der Rauch zog hinaus, dem Abbild des Dichters entgegen. Die Tür öffnete sich. Er bemerkte, wie Ilse Bäuerle einen Stapel vorsortierter Schreiben auf seinen Tisch legte. Dollinger mochte ihre stille, zurückhaltende Art, neigte er selbst doch zu cholerischen Wutausbrüchen. Er brauchte ein Gegenüber, das ihn nicht zusätzlich zu seinem tägli chen Stress reizte. Zehn Jahre arbeiteten Ilse Bäuerle und er jetzt miteinander. Die unverheiratete Mittfünf zigerin mit der strengen DuttFrisur und der eben falls ledige Honorarprofessor für Germanistik hatten eine Form des Miteinanders gefunden, bei der Res pekt die größte Rolle spielte, Nettigkeiten aber weit gehend ausblieben.
Sven Dollinger glaubte seit seiner Pubertät, dass er kühl wirken müsse, um Erfolg zu haben. Sein steiler Aufstieg zum Direktor einer Einrichtung, die interna tional als das führende Institut für die Konservatorik von Originalen deutscher Schriftsteller anerkannt war, bestätigte ihn in seiner misanthropischen Grundhal tung. ›Die Pflicht ist die erste Säule unseres Gemein wesens‹, lautete ein Lieblingssatz, den er in Ansprachen immer wieder von sich gab. Die Pflicht war das Schutzschild vor dem, was der Direktor den mensch lichen Schweinehund nannte. Der ständige Appell an die Pflicht diente als Rammbock, mit dem er sämtliche Sentimentalitäten um ihn herum als hirnloses Getue bekämpfte.
Weil er die Pflicht an die erste Stelle setzte, war Dol linger auch gewohnt, distanziert mit seinen Geschäfts partnern umzugehen. Hatten sie sich nach seinem Weltbild doch auch am übergeordneten Moralkodex zu orientieren. Vor allem, wenn er alternde Autoren oder – im Todesfall – deren Angehörige überzeugen musste, dass Marbach der beste Ort für den schrift stellerischen Nachlass ist, konnte Dollinger ebenso geschickt wie engagiert an die Verantwortung seiner Gesprächspartner appellieren. Er gab den Schriftstel lern das Gefühl, Teil einer exklusiven Gemeinschaft zu sein. Einer Gemeinschaft, die nur dadurch entste hen konnte, dass geistige Größen sich auch ein letztes Mal großzügig zeigten – und dem Institut
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