Schillerhoehe
Besold, der lei tende Kriminaltechniker, kam auf Struve zu und zog die Augenbrauen leicht hoch. Das machte er immer am Tatort. Der Kommissar führte das auf eine gewisse Angespanntheit zurück.
»Schlimme Sache, nicht wahr, Besold?« Das sagte Struve jedes Mal, wenn sie an einem Tatort aufeinander trafen. Wahrscheinlich wollte er den stets etwas nervös wirkenden Besold einfach nur beruhigen.
»Hab immer gedacht, Indianerspiele finden im Freien statt«, bemerkte der spindeldürre Brillenträger Besold mit einem leichten Stottern. Der penibel gescheitelte Kriminaltechniker schien einen guten Tag erwischt zu haben und kam gleich zur Sache: »In dem engen Gang sind vier Pfeile abgeschossen worden. Sie kamen aus einer Art Selbstschussanlage, die in fünf Metern Ent fernung aufgebaut war.« Besolds Männer hatten sie in einem Wandschrank entdeckt. Vier Armbrüste waren übereinander montiert worden. »Dietmar Scharf ist mit dem Knie gegen einen Nylonfaden gestoßen, der quer über den Gang gespannt war. Das hat die Schüsse aus gelöst. In dem Gang war es sehr dunkel. Einige Lam pen funktionierten nicht mehr.«
»Da hat jemand gründlich vorgearbeitet«, stellte Struve fest. Die Mischung aus Selbstschussanlage und Stalinorgel hatte ihren grausamen Zweck erfüllt.
Inzwischen war auch Melanie Förster eingetroffen. Wahrscheinlich hatte Littmann sie angerufen, nahm Struve an und grinste beim Gedanken daran, dass der Kollege jetzt in einer engen Freibadkabine umständlich in seine Badehose stieg. Es war ein heißer Tag, und der Kommissar war froh, im Keller nicht schwit zen zu müssen.
»Der Apfel neben dem Opfer könnte eine Art Unter schrift sein«, vermutete seine Kollegin. »Vielleicht wollte der Täter damit etwas mitteilen.«
»Gut möglich«, stimmte der Kommissar zu. »Er wollte die Schillerstadt sozusagen herzlich grüßen.«
»So habe ich es nicht gemeint«, entgegnete Melanie Förster. »Ich wollte damit sagen, dass der Apfel ein Symbol für Befreiung von Tyrannei ist. Möglicherweise sieht sich der Täter als Befreier.«
Struve zuckte mit den Schultern. Er wollte nicht zugeben, dass er Schillers Wilhelm Tell gar nicht so richtig kannte. Er hatte als Schüler Maria Stuart gelesen. Trotzdem versuchte er, den Gedanken seiner Kolle gin weiterzuspinnen. »Vielleicht spielt auch Rache eine Rolle. Viele Mörder sehen darin ihre Befreiung.«
»Die Frage ist also, wer sich von Dietmar Scharfs Tyrannei befreien wollte«, gab Melanie Förster zu bedenken.
»Und worin Scharfs Tyrannei bestand«, ergänzte Peter Struve.
Werner Besold hielt einen der Pfeile hoch. »Es muss jemand sein, der sich hier unten auskennt. Die Geschwin digkeit der Pfeile musste hoch genug sein, um beim Auf prall tödlich zu wirken. Der muss waffen technisch rech nen können und überhaupt ballistisch fit sein.«
»Und dann noch dieser Apfel wie bei Wilhelm Tell«, sagte Melanie Förster, die das Gespräch gerne wieder von der Technik zur Psychologie des Täters lenken wollte.
»Tell hin, Tell her, die Pfeile haben getroffen und wir brauchen konkrete Fakten, reine Theoriegebäude brin gen uns nicht weiter«, bemerkte Peter Struve. Er ging zu der todbringenden Apparatur. »Irgendwelche Fin gerabdrücke?«, fragte er Besold.
»Fehlanzeige, aber wir erfassen noch die verschie denen DNA am Tatort, das wird uns einige Stunden beschäftigen.«
»Gut, Besold. Sagen Sie in der Zentrale Bescheid. Die sollen bundesweit alle Waffenläden checken. Wir müssen feststellen, ob solche Dinger in den vergange nen Monaten verkauft worden sind.«
Struve dachte über das nach, was Melanie Förster zuvor gesagt hatte. Wollte der Täter etwas mitteilen? Wenn ja, war es eine Art Hinrichtung. Der Apfel war ein deutliches Symbol, eine klare Anspielung auf Tell, den Freiheitskämpfer. Die Selbstschussanlage im Kel ler ein Hinweis auf die mögliche Vergangenheit Scharfs in der sozialistischen DDRDiktatur. Es gab allerhand Klärungsbedarf und viel Raum für Fantasien. Das passte ihm nicht, denn er war gewohnt, sich an Fakten zu orientieren, die er wie ein Puzzle zusammensetzen konnte. Wer also hatte ein Interesse, einen Mann wie Dietmar Scharf zu beseitigen? Und wer hatte ihn des halb in den Keller gelockt? Und mit welchem Köder? Und warum traute sich das Opfer zu später Stunde dorthin? Der Kommissar war jetzt doch froh, eine ehrgeizige, junge Mitarbeiterin mit im
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