Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
vorbeigehen wollte, hielt er mich am Arm fest.
„Lass mich jetzt bloß nicht allein.“
Sein Blick verriet sein Unbehagen, dort hineinzugehen, wo ich mich bereits akklimatisiert hatte. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag und blieb an seiner Seite.
„Wo hast du das mit dem Handkuss gelernt?“, fragte ich leise, als er vor der großen Treppe stehen geblieben war und sie anstarrte, als handele es sich um den Aufgang zur Zugspitze.
„War gut, was? Habe ich im Blut, denke ich“, sagte er neckend, ohne den Blick von der Treppe zu nehmen.
„Kannst du mir sagen, wie ich da raufkommen soll?“
Sein eben noch selbstbewusster Gesichtsausdruck war in Hilflosigkeit umgeschlagen.
„Stufe für Stufe mit den Krücken. Ich bleibe dicht hinter dir, falls du Probleme bekommst“, schlug ich vor.
Einen Laut des Unbehagens von sich gebend, begann er sich mühsam jede einzelne Stufe zu erarbeiten. Ich hörte ihn einen deftigen amerikanischen Fluch murmeln.
Nach geschätzten zehn Minuten kamen wir endlich im Speisezimmer an, wo sich alle versammelt hatten. Friedrich Göttmann ging auf Jack zu und reichte ihm die Hand.
„Willkommen in meinem Haus. Ich hoffe, es geht Euch besser“, sagte er und setzte sich an seinen Platz am Kopf der Tafel.
Jack bestätigte sein Wohlbefinden, ließ sich an der langen Seite des Tisches neben Friedrich nieder und zerrte an meinem Arm, damit ich mich neben ihn setzte. Lisa schenkte uns Kaffee ein, den Jack genüsslich schlürfte.
Es entwickelte sich ein lockeres Tischgespräch, doch Anna ließ Jack keine Sekunde aus den Augen.
Jack wandte sich an Friedrich.
„Ich möchte mich bei Euch bedanken. Ihr habt so viel für uns alle getan, meine Kusinen aufgenommen, während ich mir solche Sorgen um sie gemacht habe. Sagt mir bitte, wie ich mich erkenntlich zeigen kann.“
„Das könnt Ihr in der Tat“, sagte Friedrich und wurde plötzlich ernst. „Wie es im Augenblick wohl aussieht, sitzt Ihr hier erst einmal fest.“ Er deutete mit einer Handbewegung auf Jacks Bein und fuhr dann fort. „Ich muss bald wieder reisen, und hier habe ich ein Haus voller Frauen, die ich ungern allein lasse. Ich bin froh, dass in meiner Abwesenheit ein Mann da ist, um auf sie zu achten. Meine Frau erwartet ein Kind, und ich weiß nicht genau, wann ich zurück sein werde.“
Anna blieb ruhig und gelassen. Sie hatten sich wohl abgesprochen, die freudige Nachricht heute zu verkünden. Barbaras erstaunliche Intuition hatte recht behalten.
„Ich verspreche Euch, gut auf sie zu achten. Ich werde Euer Vertrauen nicht enttäuschen“, sagte Jack, und Friedrich nickte zufrieden.
Wir beglückwünschten die beiden, und das weitere Tischgespräch verlor sich in Belanglosigkeiten. Jack gab bezüglich seiner Vergangenheit weiterhin Gedächtnisschwund vor, so entging er lästigen Fragen. Er unterhielt sich dennoch angeregt mit Friedrich über das Geschäft. Ab und zu entging ihm der Sinn von Friedrichs Worten, weil dieser manchmal mit einer für diese Zeit typischen verdrehten Satzstellung sprach. Mir fiel auf, dass Jack oft die Stirn runzelte und manchmal gar nicht antwortete. Doch Friedrich führte das darauf zurück, dass er Engländer war, und stellte seine Frage erneut, in anderer Form, bis Jack ihn schließlich verstand. Friedrich sprach kein Englisch und nur ein bisschen Französisch.
„Wir werden heute später zu Mittag essen. Jack, ich darf doch Jack sagen?“, fragte Anna, und er nickte ihr freundlich zu.
„Lisa zeigt Euch jetzt Euer Quartier. Der Lehrjunge wird ab heute bei seinem Vater zu Hause schlafen, es ist nicht weit von hier. Ich hoffe, es ist Euch Recht, wir haben leider kein anderes Zimmer frei. Es liegt im Parterre.“
Sie blickte forschend in sein Gesicht.
„Selbstverständlich. Ich hätte auch im Stall geschlafen, macht Euch keine Mühe.“
Anna und Friedrich lachten auf.
„Oh, nein. Im Stall schlafen bei uns nur die Pferde“, sagte Friedrich.
Anna erhob sich.
„Ich mache jetzt meinen täglichen Spaziergang. Möchte mich jemand begleiten?“
Ich verspürte wenig Lust dazu, und Jack sah mich flehend an. Die anderen stimmten zu, und Anna freute sich über die Begleitung.
Jack bestand darauf, dass ich ihn in sein Zimmer begleitete. Ich hatte sowieso gerade nichts anderes vor und ging diesmal vor ihm die Treppe hinunter, falls er ins Schwanken geraten würde. Lisa ging voran. Doch er schaffte die Stufen erstaunlich gut. Das Zimmer lag gegenüber Friedrichs Kontor im Dienstbotentrakt.
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