Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
sich draußen schon das Licht verändert, höre ich aus dem Badezimmer merkwürdige Geräusche. Es ist ein Würgen und Husten und es ist die Stimme von Calvin Van Persy. Ich klopfe an die Tür und frage, ob alles in Ordnung ist, auch wenn diese Frage sicher die letzte ist, die man hören will, wenn man in einem Badezimmer hustet. Calvin ruft: »Ich glaub, es liegt am Eis.« Mir leuchtet das sofort ein. Es ist möglich, dass die Kühlkette der Eisbox irgendwann unterbrochen wurde und dass sich pelzige Kristalle auf der Bourbonvanille gebildet haben. Ich frage noch mehr ungeschickte Sachen: »Kann ich dir irgendwas bringen? Und du meinst echt, das liegt am Eis? Hattest du so was in letzter Zeit schon mal?« Die Tür zum Bad ist natürlich abgesperrt. Calvins nächster Ruf ist ungeahnt souverän: »Das geht vorbei. Mach dir kein Sorgen, Wim. Geh am besten nach Hause.«
Ich packe die beiden ausgedruckten Erzählungen in einen der Stoffumschläge, die mit dem Logo unserer Agentur bedruckt sind, und warte darauf, dass ich anfange, mich fahl zu fühlen. Aber eigentlich fühle ich mich noch ganz normal, als ich die Agenturräume verlasse. Ich denke an das Vanilleeis, aber ich spüre dem Eis gegenüber noch keine Abneigung, und das ist ein gutes Zeichen.
Draußen ist jetzt ein Moment der Dämmerung erreicht, der die Gesichter der Passanten eher blass erscheinen lässt, anstatt sie vorteilhaft auszuleuchten, wie das zuvor sicher noch dem Sonnenuntergang gelungen ist. Wäre mir schon schlecht, würden mich diese tendenziell blassen Passanten wahrscheinlich ekeln. Mir gehen verschiedene Übelkeitsszenarien meiner Vergangenheit durch den Kopf: Weil Tom O’Brian damit ja nie aufhört, fällt mir zuerst die Hotellobby vor sieben Jahren ein, der Geruch von Apfelsaft und die schweigend vorübergehenden Kurgäste. Dabei habe ich mich seit damals noch unzählige Male übergeben. Auch einmal gemeinsam mit Carla, als wir uns im Winter eine dieser neu erbauten Eleganzholzhütten weit oben auf den ColemenHills gemietet und uns an Fonduesoßen den Magen verdorben hatten. Das war wirklich unangenehm, darüber können wir auch heute noch nicht lachen.
Am häufigsten muss ich mich an Tagen nach ausgelassenen Festen übergeben, aber das finde ich nicht schlimm. Oft ahne ich es sofort nach dem Aufwachen und eigentlich herrscht dann sogar eine gewisse Vorfreude. Insgeheim empfinde ich das Übergeben als rebellische Geste, als eine Art Befreiung von den Zwängen, mit denen ich lebe und die ich ja alle selbst zu verantworten habe. Wenn ich vor der Toilette knie und würge, weil ich in der Nacht zuvor viel zu viel getrunken habe, dann erdet mich das auf plakative Weise, dann bin ich irgendwie ganz bei mir und maximal ehrlich zu mir selbst.
Ich habe meine Wohnung fast schon erreicht und fahnde mittlerweile nach meiner frühesten Erinnerung an Übelkeit. Ich glaube, dass damals mein Dad dabei war und mir mein langes Haar zurückgehalten hat. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr hatte ich nämlich eine Langhaarfrisur. Die meisten Jungs in der Vorschule trugen ihr Haar so, wahrscheinlich weil es unseren Eltern damals gefiel, uns wie Musiker oder Künstler aus einer anderen Zeit aussehen zu lassen. Sicherlich haben unsere Eltern auch bedacht, dass viele Jungs irgendwann dünnes Haar kriegen, und wollten ihren Söhnen so ermöglichen, wenigstens einmal im Leben eine prächtige Langhaarfrisur zu tragen. Mein Dad hatte immer eine hohe Stirn, aber das Bewusstsein darüber, dass er eine hohe Stirn hatte, stellte sich bei mir keinesfalls vor vierzehn ein, eher später. Zuvor war es einfach die Stirn meines Dads und ich habe sie mit keiner anderen Stirn verglichen. Als Kind ist man ja in der Lage, die Welt als eine Ansammlung von Fakten zu sehen, das ist eine dieser Fähigkeiten, die man manchmal gerne zurückgewinnen würde, aber meistens dann doch lieber nicht.
Mein Dad hat die Stadt verlassen, als ich zwanzig war. Für ihn war dieser Umzug vor allem ein Ausstieg aus dem Filmgeschäft. Nach seinem größten Misserfolg, der Kitschromanze ›CostaCostaCounty‹ , hatte er das Gefühl, dass ihn hier nur alles unnötig an die schmerzhaften Kritiken erinnern würde, und an die Gewissheit, einen schlüpfrig-seichten Film produziert zu haben. Er kommt nur selten zu Besuch und trägt dann Echthaarperücken, um möglichst nicht erkannt zu werden. Letzten Spätsommer haben wir uns auf einen Teller voller Kebabfleisch mit Süßkartoffeln und Sesamsoße getroffen. Er
Weitere Kostenlose Bücher