Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
wir ja kaum noch über längere Texte, sondern über unsere Shortmessages und wahrscheinlich auch über unsere Blicke und darüber, dass wir uns anfassen und küssen. Was genau über das Küssen und Anfassen eigentlich kommuniziert wird, ist mir unklar. Man kann einen sanften Kuss ja nicht direkt übersetzen, man kann nur Sätze sagen wie: ›Wir gaben uns einen sanften Kuss‹ , und in diese Sätze kann man dann wiederum viel Diffuses hineinprojizieren. An schlechten Tagen glaube ich, dass Küsse und die anderen Körperdinge eigentlich gar nichts kommunizieren, sondern dass wir damit nur einen Verhaltenscode erfüllen. Genauso wie mit dem Reden darüber. Oder mit der Art und Weise, wie wir interessante und warme E-Mails formulieren, um die Körperdinge auf den Weg zu bringen.
Beim erneuten Lesen der alten E-Mails denke ich, dass Carla und ich eigentlich bis heute ein strenges Regelwerk befolgen. Aber ich denke auch, dass wir das beide wissen. Wir wissen es auch dann, wenn wir uns ganz gewöhnlich in die Arme nehmen, und dieses Wissen verbindet uns auf eine spezielle Weise. Auf dieses Wissen bilden wir uns sicher auch relativ viel ein, dabei haben dieses Wissen wahrscheinlich viele Leute, zumindest wohl die allermeisten, die ebenfalls in CobyCounty aufgewachsen sind.
Am dreiundzwanzigsten Februar ist es fast schon heiß, also gehe ich in kurzer Hose auf die Straße. Carla wartet in Jeans an der Verkehrsinsel. Als sie mich sieht, betritt sie die Insel und posiert als Werbeskulptur. Zur Begrüßung geben wir uns einen trockenen Kuss auf den Mund. »Komisch, dass die hier nichts Neues hinbauen« , sagt sie. Ich antworte: »Ich glaube, das mit der Werbung hat sich erledigt. Die meisten wissen jetzt wohl, dass die Shampoos von Colemen&Aura einfach die besten sind.« Während ich rede, weiß ich gar nicht, warum ich meine Sätze sarkastisch betone. Denn eigentlich halte ich die Colemen&Aura-Shampoos ja tatsächlich für die besten. Und eigentlich gibt es auch keinen Grund, diese Meinung zu ironisieren, denn Shampoo benötigen schließlich fast alle Menschen auf der Welt. Carla geht auch gar nicht auf meinen Tonfall ein, sondern schweigt einfach, was ich sehr smart von ihr finde.
Wir spazieren in das kleine Parkkarree zwei Straßen weiter, wo diese charmante kleine Holzhütte aufgebaut wurde, aus deren Fenster heraus nun Croissants verkauft werden. Wenn Carla und ich miteinander Zeit verbringen, essen wir fast immer Backwaren. Würden wir uns häufiger treffen als zwei- bis dreimal die Woche, würden wir sicher zunehmen, glaube ich, aufgrund der vielen Kohlenhydrate. Vier Häuser von der Verkehrsinsel entfernt kündigt ein Fassadenplakat den ›besten Frühling aller Zeiten‹ an. Es ist eine Werbung für das Duschgel AuraPro . Kurz frage ich mich, wie es wohl riechen mag, ich blicke zu Carla, aber sie scheint sich nicht dasselbe zu fragen.
Der Croissantverkäufer in der edlen Fichtenhütte könnte auch eine hochgewachsene Frau sein, er ist recht dürr und hat ein fein geschnittenes Gesicht. Sein feminines Outfit unterstützt diese leichte Verwirrung. Meistens finde ich so ein Verkleidungsgehabe ja etwas banal und oberflächlich, doch bei dem Croissantverkäufer kommt mir das irgendwie angemessen vor, weil er sich in die Umgebung dieser Parkanlagenminiatur einfügt wie eine Installation. Er erkennt Carla und mich und strahlt uns neidlos an, wir waren schon häufiger an seinem Stand. Die Croissants kommen in weißen Tüten, die sofort durchsichtig werden. Es sind schwere, französische Croissants, die sich im Bauch magisch auszubreiten scheinen, von denen man fast umgehend müde wird. Wir setzen uns auf eine glänzend lackierte Bank, halten rechts unsere Croissants und links einen Stapel Servietten. Ich sehe Carla an, dass auch sie panische Angst davor hat, Fettflecken auf ihrem Hemd zu hinterlassen. Wir beugen uns beide unelegant nach vorn, damit die Gebäckkrumen sicher auf den Rasen fallen und nicht auf unsere Frühjahrstextilien.
Carla fragt: »Was machen wir nach dem Croissant? Legen wir uns dann hin?«
»Nein, dann gehen wir joggen.«
»Lass uns doch heute mal so einen Tag machen, an dem wir alles so meinen, wie wir es sagen.«
»So einen Tag haben wir aber noch nie gemacht« , sage ich.
Und dann schauen wir uns, auf den Croissants kauend, an. Ich versuche ironisch mit einer Braue zu zucken, doch mein Zucken prallt an Carlas Blick ab, der gerade so knochenhart wird, wie ich ihn seit Monaten nicht gesehen habe:
Weitere Kostenlose Bücher