Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
als sie zu fallen drohen, dann aber doch noch aufgehalten werden, vielleicht vom Gewicht der hinteren Waggons. Die Moderatoren wiederholen sich viele Male, sie verweisen auf diejenigen, die erst später zugeschaltet haben. Auf Kamerazooms in das Innere der Bahn wird verzichtet, vermutlich aus Gründen der Pietät: Die Menschen in der Bahn müssen wahnsinnig panisch sein, vermutlich gibt es auch Verletzte, und das alles jetzt schon zu zeigen wäre vielleicht makaber. Das Bild bleibt in der Totalen und man sieht eigentlich immer dasselbe: die schief hängenden, im Wind wippenden vorderen Waggons, im blauen Himmel weit oben über den Dächern. Die Moderatoren sind sachlich, aber auch ergriffen, ihre Stimmen brechen mitunter weg. Ich bin nicht sicher, ob das so sein muss, aber wahrscheinlich haben sie es so beigebracht bekommen. Im Supermarkt sind einzelne Ausrufe zu hören, zum Beispiel: »Wo bleiben die verdammten Helikopter?!« Mit Hilfe von Helikoptern sollen die Passagiere sukzessive aus der Bahn herausgeholt und sicher zu Boden gebracht werden. »Ja, wo bleiben die Helikopter!?« , sage ich dann auch und klinge unfreiwillig ironisch dabei. Ein kahlköpfiger Mann dreht sich kritisch zu mir um und fixiert meine Augen. Ich halte seinem Blick stand, und dabei muss er eigentlich spüren, dass ich es gar nicht ironisch gemeint habe.
Ein Polizeitransporter rast am Supermarkt vorüber, und als ich wieder eine Sirene höre, bin ich nicht sicher, ob sie von dem Transporter selbst oder aus dem Lautsprechersystem des Supermarktes kommt. Der Ton scheint jetzt voll aufgedreht, die Moderatoren der Live-Übertragung werden immer lauter. Sie erwähnen, dass die Angstschreie der Hochbahninsassen bis hinunter auf die Straße zu hören sind, dass diese Schreie zum Schutz der Zuschauer jedoch aus den TV-Aufnahmen herausgefiltert werden. Im Supermarkt halten sich viele ihre Hände vor den Mund. Es sind unkontrollierte, total abgegriffene Gesten, und als ich mich frage, mit welcher Gestik ich selbst gerade aufwarte, verkrampfe ich total. Ich verschränke die Arme und lehne mich auf mein linkes Bein.
Die Gebäude unter der Hochbahn sind längst evakuiert, mittlerweile sind Aufnahmen von Menschen zu sehen, die mit Laptops und externen Festplatten auf dem Arm in ihre Familienvans flüchten. Dahinter Kinder mit riesigen Stofftieren und Mütter, die gerahmte Gemälde in geöffnete Heckklappen schieben. Sollte nicht bald Hilfe kommen, erklären die Moderatoren, könnten die vorderen Waggons für das ermüdete Schienenmaterial zu schwer werden, dann könnte die ganze Bahn früher oder später aus ihrer Führung herausbrechen und hinab auf die Gebäude fallen. Schäden in Millionenhöhe werden prognostiziert, zudem Imageschäden und persönliche Traumata.
Es ist möglich, dass einige der hier im Supermarkt Anwesenden um Freunde und Verwandte fürchten, die sich vielleicht gerade in der Hochbahn befinden. Einhundertneunzehn Personen sollen an der Fahrt teilgenommen haben, »einhundertneunzehn Personen in akuter Lebensgefahr« , die Moderatoren updaten diesen Satz regelmäßig, obwohl es eigentlich gar nichts zum Updaten gibt. Die Straße vor dem Supermarkt ist jetzt menschenleer, nur einmal sehe ich einen Schwung Fahrräder vorbeiziehen, vermutlich Zwölfjährige, die erst an der Unfallstelle bremsen werden. Als in der Live-Übertragung die ersten beiden Helikopter auftauchen, bricht unter den Supermarktbesuchern ein irrer Jubel aus. Plötzlich ist da Aufbruchstimmung, plötzlich werden Fäuste geballt. Bald schon sind es vier Helikopter, die um die Hochbahn kreisen und dann neben den frei schwingenden Waggons in der Luft zum Stehen kommen. Ab diesem Moment sind dann doch Großaufnahmen zu sehen: tapfere, blonde Mädchen werden von jungen Männern in die sicheren Helikopterkabinen gehoben. Es folgen Senioren und Frauen, Schlag auf Schlag, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, doch unsere Helikopterprofis gewinnen ihn. Zuletzt landen die Unglückspassagiere am Strand, und die Supermarktbesucher liegen sich in den Armen. Auch ich umarme und werde umarmt und fühle mich beim Blick in die erhitzten und restschockierten Gesichter enorm erleichtert.
Die größte Not ist nach insgesamt sechzig Minuten überstanden und es werden erste Interviews mit den Betreibern der Hochbahn gezeigt. Zuletzt vergesse ich die Erdnussbutter und verlasse den Supermarkt bloß mit zwei Packungen Fruchtsaft.
International wird man von diesem Zwischenfall in CobyCounty
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