Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
sicher manches zu hören bekommen, schließlich ist es eine Katastrophe mit mildem Ausgang, die sich spannend nacherzählen lässt. Die regionalen Onlinemagazine berichten umfassend und sehr unterhaltsam, es wird viel mit Erlebnis- und Augenzeugenberichten gearbeitet, mit Handyaufnahmen und O-Tönen vom Unfallort. Ich verbringe ganze Vormittage mit diesen Beiträgen, lese auf CobyCountySpotlights.com sogar die User-Kommentare, die erst erscheinen, wenn man ganz nach unten scrollt. Da die Bewohner von CobyCounty gemeinhin keine Kommentare auf Nachrichtenwebseiten posten, wird in diesen kleinen, oft hämischen Texten der Neid von außen spürbar. Unser Bürgermeister Peter Stanton spricht von einer »unentschuldbaren Tragödie« , lässt großzügige Entschädigungen überweisen und verleiht den Helikopterpiloten diverse Auszeichnungen. Auf den öffentlichen Ehrungen werden die Piloten mit ihren silbernen Sonnenbrillen frenetisch gefeiert.
Ich traue Wesley zu, dass er auf seiner obskuren Reise auf Nachrichtenmagazine komplett verzichtet. Also sende ich ihm eine E-Mail mit Links zu den besten Artikeln und Videobeiträgen zum verhinderten Hochbahnabsturz. Die Mail ist eine Flucht nach vorn, ich schreibe:
›Nun hast du deine Gefahr! Aus meiner Sicht hat die Stadt ihre Balance verloren, weil ein wichtiger Bewohner fehlt. Man vermisst Wesley Alec Prince. Noch sechs Tage bis zum Frühlingsstart, Junge … *Wim‹
Ich denke, dass Wesley mein nachgeschobenes ›Junge‹ als befremdlich anbiedernd empfinden wird. Um mich abzulenken, schalte ich die Compilation mit Carlas Pianomusik ein. Ich möchte nun wenigstens ihrer Musik eine neue Chance geben, wenn ich ihr selbst auf dem Parkkarree schon keine wirkliche Chance gegeben habe. Die ersten Töne erinnern mich daran, dass ich schon sechsundzwanzig bin, dann fällt mir das Bild von Carla in ihrem Flur ein, sehr aufrecht auf dem Klavierstuhl sitzend, etwas streng und indirekt sexy. Beim dritten Lied kommt es mir vor, als hörte ich die Aufnahme zum ersten Mal. Es ist wohl ein klassischer Walzer, aber ich kenne mich mit dieser Musik zu wenig aus, als dass ich das wirklich definieren könnte. Während des vierten Tracks schreibe ich Carla eine SMS:
›Höre gerade deine Musik. Das vierte Lied erinnert mich an verliebte Vormittage bei Expresskuchen. Übst du noch viel? Wim‹
Sie antwortet nie sofort, natürlich auch dieses Mal nicht. Ich bleibe also auf dem Rücken liegen und zweifle meine Shortmessage an. Vielleicht sollte ich für heute aufhören, über Text zu kommunizieren, überlege ich.
7 ↵
Einmal im Monat bestehen meine Mutter und Tom O’Brian darauf, mich zum Essen einzuladen. Sie holen mich immer mit dem Auto ab, selbst dann, wenn wir Restaurants in meiner Nachbarschaft besuchen. Normalerweise verabreden wir uns einige Tage im Voraus und meist freue ich mich auf das Essen und die Autofahrt dorthin. Aber heute rufen mich die beiden erst an, als sie bereits vor meiner Haustür geparkt haben. Sie erzählen, dass sie das gute Wetter auf einer Restaurantterrasse ausnutzen wollen, bevor bald alles wieder voller Touristen sein wird. Ich winke ihnen von meinem Balkon aus zu und rufe: »Wartet kurz. Ich muss mir noch Schuhe anziehen.«
Auf der Rückbank von Tom O’Brians stark klimatisiertem Off-Road-Van erreicht mich dann eine Shortmessage von Carla:
›Ich habe versucht es anzudeuten. Jetzt weiß ich es sicher. Mit einem Jungen namens Dustin fängt für mich eine neue Zeitspanne an. Das wird besser für uns beide sein. Ich bleibe deine Vertraute. In allgemeiner Liebe. *C.‹
Ich lese die Shortmessage nur ein einziges Mal. Die kühle Luft der Klimaautomatik umweht meine blanken Waden und ich denke, dass ich Carla nicht vorwerfen werde, dass sie sich via SMS getrennt hat. Man sollte immer die Wege gehen, die man am virtuosesten geht. Ihre Form ist die SMS, sie bleibt sich treu, das ist prinzipiell gut, mit einer Kritik daran würde ich es mir nur leicht machen. Es liegt ja auch kein Konflikt vor, es gibt ja auch keinen Grund zur Wut. Vielmehr ist diese SMS, die mich nun etwas fahl auf die Straße hinausblicken lässt, die Folge einer wahrscheinlich klugen Sachentscheidung, kitschlos und individuell. Carla muss von naiver Liebe übermannt worden sein, sie gesteht es sich ein und zieht Konsequenzen. Im Grunde kann ich mich nicht beklagen. Wir hatten eine wirklich gute Zeit, und nicht alle Menschen erleben eine Trennung auf diesem Niveau.
»Hast du auch Lust auf
Weitere Kostenlose Bücher