Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
wusste, dass ich als Neugeborener noch gar nicht richtig sehen konnte.
In den Jahren danach lernte ich zu gehen und zu sprechen, sah Zeichentrick-, aber auch Spielfilme, und meine Mutter las mir Geschichten vor, die eigentlich gar nicht für Kinder geschrieben waren. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich meine Mutter damals nur vorlesen ließ, weil ich spürte, dass sie das gerne tat, dass sie interessierte, was sie da las, obwohl ich selbst natürlich gar nichts davon verstand. Schon früh besuchte ich Workshops: auf Rasenfeldern, in Schwimmhallen, vor Flachbildschirmen. Vor allem aber gab es in jedem Bezirk mehrere Kunstklassen. Ich habe immer schlecht gemalt, doch meine Buntpapiercollagen gehörten zu den besten. Als ich zehn war, sagte einer der Dozenten, dass ich mit meinen Collagen eines Tages viel Geld verdienen könnte. Ich habe dann aber nur gut vier Monate lang mit Buntpapier gearbeitet und schon als früher Teenager entschieden, dass ich mich auf Bildende Kunst nicht einlassen würde. ›Mein Weg wird ein anderer sein‹ , dachte ich damals, und ich dachte es als Überschrift für alles Mögliche, was in den Folgejahren geschah.
Wesley lernte ich in einem Eishockeykurs kennen, den wir bald gemeinsam abbrachen. Wir müssen zu dieser Zeit elf Jahre alt gewesen sein, Wesley vielleicht schon zwölf. Und irgendwann, etwa im Alter von fünfzehn, ging die Zeit der Kurse und Workshops dann vorbei, und die Phase der Romanzen, Trennungen und Strandpartys begann. Im Grunde dauert diese Phase vielleicht für immer an, denke ich jetzt manchmal, denn Erwachsenwerden ist ein ewiger Prozess, bis in den Tod hinein, oder, wie Wesleys Mutter behaupten würde, bis weit über den Tod hinaus. Ich bin stolz darauf, dass ich niemals einen Yogakurs besucht habe. Und täglich freut es mich, kein virtuoser Koch zu sein. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass ich einer gewissen Linie immer treu geblieben bin, dass ich mich stets an dieser Linie entlang bewegt habe und so zu dem Wim Endersson geworden bin, der heute erfolgreich für Calvin Van Persy arbeitet und regelmäßig mit der talentierten Carla Soderburg schläft. Woraus diese Linie genau bestand, ist schwer zu definieren, aber sicherlich hat sie etwas mit meinen Neigungen und Vorlieben zu tun. Und diese Neigungen und Vorlieben haben sich wahrscheinlich in der Zeit zwischen der Autofahrt auf dem Rücksitz der Limousine meines Dads und den ersten Kunstkursen im Alter von dreieinhalb Jahren herausgebildet, also in einer Zeit, an die ich mich unmöglich erinnern kann.
Während mir diese Zusammenhänge und Abläufe durch den Kopf gehen, halte ich es immer weniger für sinnvoll, all das noch einmal für Carla in einer E-Mail zusammenzufassen. Denn eigentlich weiß sie das ja alles längst oder müsste es sich zumindest denken können. Und darauf habe ich sie ja schon auf dem Parkkarree hingewiesen, als ich ihr sagte, dass sie mich relativ gut kennt.
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Ich erfahre es nicht zuerst durch die Medien, sondern live auf der Straße, als ich mit einem leeren Stoffbeutel auf den Supermarkt zugehe, um Erdnussbutter und Fruchtsaft zu kaufen. Plötzlich läuft eine Frau weinend an mir vorbei. Ihr Schluchzen klingt nicht nach einer persönlichen Tragik, auch nicht nach Krankheit oder Trennung, sie scheint aus Gründen zu weinen, die sie mit vielen anderen teilt. Ich drehe mich nach der Frau um, aber sie steigt sofort in einen Wagen und fährt davon. Von weit her sind jetzt auch Sirenen zu hören, mal lauter, mal leiser, es ist windig. Am Himmel ziehen wieder diese Wolken und Vögel vorbei, ich kenne das nun schon, das ist vielleicht alles nicht ganz normal. Ein älterer Mann hetzt über den Bürgersteig und ruft Sätze in sein Mobiltelefon: »Bleib ganz ruhig … bleib einfach ruhig … die holen euch da raus! Die holen euch, hörst du!«
Im Supermarkt herrscht ungewohntes Gedränge. Männer und Frauen schieben sich in den Eingangsbereich, unter zwei Flachbildschirme, von denen ich eigentlich immer dachte, dass sie überhaupt keinen Zweck erfüllen. Doch heute ist alles anders. Die Einkäufe werden unterbrochen, Bedienstete und Konsumenten versammeln sich und schauen gemeinsam zu den Bildschirmen hinauf. Selbst Passanten ohne Einkaufsbeutel betreten jetzt den Supermarkt, um mitzuverfolgen, wie unsere Hochbahn verunglückt ist.
Der TV-Sender zeigt vor allem eine einzelne Szene. Immer wieder die Szene, als die vorderen beiden Abteile der Hochbahn in einer Kurve von der Schiene kippen,
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