Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
nichts anderes übrig, als diesen Zustand hinzunehmen. Und vielleicht ist das insgeheim sogar einer der schönsten Zustände seit Wochen.
Carlas Shortmessage klang, als wollte sie vorläufig keinen Kontakt mehr. So gesehen könnte sie genauso gut verschwunden oder sogar verstorben sein. Als ich das Wort ›verstorben‹ denke, zieht sich mein Hals zusammen. Wenn ein Bewohner von CobyCounty stirbt, gibt es meistens ein Fest, auf dem zuerst geweint und später frenetisch getanzt wird. Aber wenn man verlassen wird, gibt es nur gewöhnliche Strandpartys oder Partys in Bars und Bistros, und auf denen sind Tränen eher peinlich. Manche fangen an sehr viel zu lesen, sobald sie labil sind, alte Texte, in denen Leute aus einer anderen Zeit von ihrer eigenen Labilität erzählen. Als ließe sich das, was früher war, mit dem vergleichen, was heute ist. Andere flüchten sich in religiöse Rituale. Doch ich habe erst wenige Leute persönlich kennengelernt, die sich als religiös definierten. Mit siebzehn kam mir das falsch vor. Als würde ich bewusst ferngehalten von den religiösen Teenagern, von denen ich nur vermutete, dass es sie in unserer Nachbarschaft gab. Mir kam es teilweise vor, als würden in CobyCounty religiöse Lebensmodelle subtil ausgegrenzt. Dabei gibt es durchaus bekennende Juden, Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus und so weiter in CobyCounty, aber die leben ihren Glauben meist nur privat aus. Versammelt trifft man sie höchstens in ihren Stammrestaurants. Im Bistro am Kanal ist der Fenstertisch zum Beispiel regelmäßig für eine christliche Splittergruppe reserviert. Wenn ich dort Pasta mit Meeresfrüchten esse, denke ich: ›Hier treffen sich nun also wieder diese soft gelaunten Katholiken und trinken ihre Weißweinschorlen.‹ Und dann fällt mir auf, dass mir die Katholiken in ihren v-förmig ausgeschnittenen Strickjacken nicht sehr sympathisch sind. Bis heute konnte ich in diesen Stammrestaurants auch noch keine Gemeinschaft ausmachen, die nicht vorwiegend auf gute Stimmung aus gewesen wäre, so wie ja alle Menschen vorwiegend auf gute Stimmung aus sind. Niemand möchte missgelaunt auf sein Lieblingsgericht blicken, und so gesehen sind wir vielleicht alle religiös. Nicht auf so eine getrieben paranoide Weise wie Wesleys Mutter vielleicht, in der man gleich das Land verlassen will, aber auf die Art, dass wir durchaus an irreale Dinge glauben. Wesley war zum Beispiel immer sicher, dass er eines Tages den Mann oder die Frau seines Lebens treffen würde. Und Carla hat eigentlich bis vor kurzem geglaubt, dass ich der Mann ihres Lebens bin. Zumindest musste ich das annehmen.
Spätabends, als im Fernsehen Werbung für frivole Onlinedienste läuft, beginne ich, unsere Beziehung anhand früher Dokumente aufzuarbeiten. Die letzte E-Mail ist sieben, die erste fünfundzwanzig Monate alt. Ich beginne wieder vorn. Carlas Briefe vom Anfang kamen mir ja noch vor wenigen Tagen wie die wahrsten Texte überhaupt vor. Heute lese ich sie und weiß, dass es das Mädchen von damals gar nicht mehr gibt, also auch nicht mehr die Wahrheit von damals. Konserviert sind nur die Sätze, die wir ausgetauscht haben, weil sie in unseren E-Mail-Accounts gespeichert sind. Carla ist eine neue Carla geworden und ich ein neuer Wim. Der Wim von heute hätte die Carla aus unseren ersten Wochen wahrscheinlich viel besser wertschätzen und lieben können, denke ich jetzt, während es draußen schon wieder hell wird. Die Carla von damals liebe ich heute vielleicht am allermeisten, viel mehr als die Carla der Gegenwart. Vermutlich werde ich die Carla von heute schon bald vergessen, aber das ist dann ja nicht mehr schlimm, denn dann wird es schon die Carla der Zukunft geben, und mit der habe ich ja nichts mehr zu tun. Es kommt mir plötzlich so vor, als wäre die Herstellung von Glück ausschließlich eine Frage des Timings. Und dieses Timing ist uns nicht optimal gelungen. Während hellblauer Sonnenaufgänge wie heute wird es mir vielleicht auch in vielen Jahren noch schwerfallen, diesen Fakt zu akzeptieren.
Tom O’Brian erfährt von meiner Trennung als Erster, weil ich ihm beim Einkaufen begegne. Er wundert sich darüber, dass ich meinen Korb so überlade. Ich begründe es damit, dass ich vorerst nicht so oft mein Apartment verlassen möchte: »Nach einer Trennung nimmt man viele Bäder und schaut TV-Shows, die man offiziell niemals ansehen würde. Dafür brauche ich Proviant.« Tom O’Brian lacht über meine Aussage, aber sein Lachen
Weitere Kostenlose Bücher