Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
Becher mitgebracht, er ist voll bis zum Rand.
»Ich freue mich, dass du hier bist« , sagt sie, »hätte gar nicht gedacht, dass du dich im Untergrund sehen lässt.«
Sie benutzt das Wort ›Untergrund‹ ohne jedes Augenzwinkern, wie mir scheint. Zuerst will ich nachfragen, was genau es mit dieser Partyreihe auf sich hat, aber eigentlich erschließt es sich ja von selbst: Es hat ziemlich sicher etwas mit weniger guten Rauschmitteln und mit einer eingeschränkten Getränkeauswahl zu tun, vielleicht auch mit blauer, unvorteilhafter Beleuchtung.
»Arbeitest du schon lange für den Untergrund?« , frage ich.
»Seit ich im Hotel aufgehört habe.«
Ich nicke, ohne zu wissen, wann das gewesen sein soll.
»Ich wollte unbedingt was Neues kennenlernen. Im Hotel fühlte ich mich überspannt und ziemlich ermüdet zugleich. Aber das kennst du bestimmt … bist du noch an der School of Arts and Economics?«
»Nein, ich bin jetzt Agent.«
Pia schaut mich an und dann prostet sie mir zu, obwohl man sich mit diesen Bechern gar nicht richtig zuprosten kann, sie stoßen geräuschlos aneinander und etwas Flüssigkeit schwappt aus meinem. Ich frage: »Gibt es den Untergrund eigentlich auch in den anderen Jahreszeiten?«
Pia trinkt einen Schluck und schaut mich an, als könnte ich meine Frage gar nicht ernst meinen. Ich zucke vorsorglich mit den Schultern. Sie sagt: »Wir sind saisonunabhängig. Uns gibt es immer.« Pias Stimme klingt jetzt so, als hätte sie jahrelang geraucht. Sie macht eine Geste, die ihre eigene Trunkenheit ausdrücken soll, etwas aus den Handgelenken heraus, und dann steht sie auf: »Du scheinst nicht tanzen zu wollen … Wim?« Ich höre sie kaum noch, als sie sagt: »Na ja. Vielleicht sehen wir uns später.«
Ich bleibe sitzen, den Becher mit der linken Hand umfassend, und blicke mich um. Die anwesenden Touristen kommen mir schlecht gelaunt und nervös vor. Ich spüre eine enorm moralische Stimmung in mir aufsteigen, so sehr, dass ich fast glaube, ich müsste mich jetzt gleich übergeben und nicht erst morgen früh. An diesem Punkt strande ich selten und eigentlich ausschließlich durch scharfe Mischgetränke: Ich bin leicht labil und den Tränen nah und gleichzeitig voller Wut. Kurz glaube ich, dass ich etwas sagen möchte, quer in den Raum hinein, aber dann zieht sich meine Kehle zusammen, und dann könnte ich höchstens noch eine E-Mail schreiben: ›Eine Gefahr, die wir noch in diesem Frühling spüren werden, die ganz CobyCounty spüren wird … Es sei denn, wir verlassen die Stadt.‹ Ich stelle den vollen Becher auf der Treppenstufe ab und suche den dunklen, akustisch abgeschirmten Gang nach draußen.
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Dass ich mich am Morgen dann doch nicht übergeben muss, irritiert mich kurz, aber wenn einem nicht übel ist, dann ist einem eben nicht übel. Ich frühstücke Obst, trinke dazu ein Glas Eistee, ich vertrage alles wie immer, doch ich fühle mich noch etwas matt. Ich habe einen Zustand erreicht, in dem ich mir eigentlich keine Fragen mehr stelle. Triste Erinnerungsbilder blitzen auf: Pias Falten, unreine Haut, Damenschuhsilhouetten. Ich ziehe eine navyblaue Sporttasche aus meinem Wandschrank. Die Tasche habe ich seit gut eineinhalb Jahren nicht mehr in den Händen gehalten, vielleicht weil ihr Volumen nur dann sinnvoll ist, wenn ich für mehr als fünf Tage verreise. Oder wenn ich mich auf keinen Fall entscheiden kann, welche Hemden, Anoraks und Hosen ich auf einen Ausflug mitnehmen möchte, und ich dann einfach viel mehr als nötig einpacke. Ich öffne eine Schublade und greife einen Stapel Boxershorts sowie einfarbige T-Shirts und Strümpfe. Ich setze alles nebeneinander in die Sporttasche, ich denke nicht viel nach, ich denke nicht einmal an mögliche Wetterlagen, ich nehme lediglich an, dass ich frische Unterwäsche brauchen werde.
Vor meiner Wohnungstür wuchte ich das Gepäck über meine Schulter und gehe auf den Hauslift zu. Natürlich wäre ein Koffer mit Rollen bequemer gewesen, doch mit der Sporttasche fühle ich mich vitaler.
Jemand hat einen Go!Vote!-Sticker auf die Spiegelfläche im Lift geklebt. Am Wochenende finden unsere Regierungswahlen statt, wie in allen ungeraden Jahren am ersten Samstag im Frühling. Dieses Mal wird vergleichsweise wenig dafür geworben. Auf der Promenade habe ich nur ein paar schlichte Plakate hängen sehen, neben den Eingangstüren von Bars und Bistros. Präsenter ist die Wahl auf den regionalen Webstartseiten. Auf CobyCountySpotlights sind humorvolle
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