Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
Ansprachen unseres Bürgermeisters abspielbar, als Videos, die mit leicht anrührenden Stadtimpressionen verschnitten sind. Diese kleinen Werbefilme haben mir oft ein gutes Gefühl gegeben, teilweise so sehr, dass ich unseren Bürgermeister Peter Stanton am liebsten sofort umarmt hätte. Er tritt derzeit in mehrfarbigen Logo-T-Shirts auf, die weder zu seinem Blick noch zu seiner strengen Frisur passen, aber vergleichbare Shirts hat er auch vor den letzten beiden Wahlen schon getragen, und die Wähler empfinden das als selbstironisch und als sehr sympathisch. Auch mich überzeugen diese leicht albernen Oberteile und die gut gemachten Videos, ganz unabhängig davon, ob ich mir gerade Sorgen um unsere Stadt mache oder nur Sorgen um mich selbst. Soweit ich weiß, wurde in CobyCounty noch nie jemand benachteiligt. Wer mal für eine Weile ohne Job ist oder sich bewusst gegen das Arbeiten entscheidet, erhält ein gewisses Gehalt von der Regierung, aber dieses Gehalt nimmt fast niemand in Anspruch. Denn entweder sind die Familienvermögen vollkommen ausreichend, oder man liebt seinen Job einfach zu sehr, als dass man ihn für ein geschenktes Regierungsgehalt aufgeben wollte. Der Gegenkandidat Marvin Chapmen vermittelt in seinen Videobotschaften den Eindruck, als würde er dieses Prinzip gar nicht richtig begreifen. Ich habe bisher nur eines der Videos gesehen, und auf diesem hat Chapmen aus einem etwas zu leger geschnittenen Leinensakko heraus erzählt, dass es in Zukunft wichtig werde, junge Talente schon früher in die Mitte CobyCountys zu holen. Chapmen ist braun gebrannt und etwas unsauber rasiert, man ahnt, dass er ganze Jahre seines Lebens ausschließlich an unseren Sandstränden verbracht hat. Ich frage mich, ob er damit eventuell einige Teenager für sich gewinnen kann, aber auch wenn er das schaffen sollte, wird es für ihn nicht zum Sieg reichen. Denn der amtierende Bürgermeister kümmert sich im Grunde ziemlich gut um alles, auch wenn ihm manchmal vorgeworfen wird, dass sein Einstieg in die Politik als einziger Sohn von Carmen Aura, der Nichte Steven Auras, sicher vergleichsweise leicht gewesen ist. Ich halte diese Vorwürfe schon immer für etwas paranoid. Denn etablieren kann sich ein Politiker ja nur durch charismatisches Auftreten und durch sinnvolle Entscheidungen, und für beides ist Peter Stanton bekannt. Auch nach dem Hochbahnunglück hat er sich angemessen verhalten. Beim Überreichen der Auszeichnungen an die Helikopterpiloten hat er teilweise etwas unsicher und jugendlich gewirkt, und das haben sicher wieder alle als sehr sympathisch empfunden.
›Eigentlich mögen Kinder baumwollene Jogginganzüge‹ , denke ich, als ich auf der Straße drei ungefähr Neunjährige in gutsitzenden Jacketts sehe. Sie gehen auf eine rostfarbene Limousine zu und folgen dabei ihrem Vater, der in seinem eigenen Anzug weit weniger elegant aussieht, vielleicht weil seine Schultern längst zu breit geworden sind. Die Lässigkeit des Vaters sieht im Vergleich zu der Lässigkeit der Jungs regelrecht antrainiert aus. Vielleicht ist er ja von außerhalb, und nur seine Kinder sind in CobyCounty geboren, vielleicht liegt es wirklich daran, überlege ich, aber das ist wieder so eine Spekulation, die mir ja gar nichts bringt. Als die Jungs auf der Rückbank des Wagens ihre Plätze einnehmen, wirken sie weder besonders unglücklich noch besonders enthusiastisch. Es kommt mir so vor, als hätten die drei gerade sehr lange ferngesehen, sie schauen versunken durch die getönten Seitenscheiben und bemerken mich gar nicht. Möglich ist aber auch, dass sie auf dem Weg zu ihrer ersten Beerdigung sind. In diesem Fall wären ihre Gesichtsausdrücke auch schon wieder angemessen. Mir kommt der Gedanke, dass ihre Mutter gestorben sein könnte, und als der Wagen aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, breche ich in Tränen aus. Es ist ein pauschales Schluchzen über viele Dinge zugleich, über den Gesichtsausdruck der Söhne, über die Einsamkeit des Dads, über die Merkwürdigkeit meines Frühlings. Zwar ist gerade niemand in der Nähe, der mein Schluchzen hören könnte, trotzdem reiße ich mich schnell wieder zusammen. Die fiktionalen Schicksale von Kindern sind immer sehr anrührend, eben weil Kinder etwas sind, das eigentlich jeden Menschen, der einigermaßen klug ist, überfordern muss. Wahrscheinlich gab es gerade aus dieser Einsicht heraus in Wesleys Leben eine Phase, in der er über einen Job im Kindergarten nachdachte. Er muss damals etwa
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