Schindlers Liste
Vorschein, die ihm Ärzte aus dem Getto mitgegeben hatten, auch einen von Itzhak Stern.
Die Gettos würden aufgelöst, sagte er, in Krakau sowohl als in Warschau und in Lodz. Die Zahl der Bewohner des Warschauer Gettos sei um vier Fünftel zurückgegangen, die des Lodzer um zwei Drittel, die des Krakauer um die Hälfte. Wo waren diese Menschen geblieben? Einige waren in Arbeitslagern, doch man müsse als gegeben annehmen, daß wenigstens drei Viertel von ihnen in jenen Lagern verschwunden seien, in denen die modernen Mordmaschinerien arbeiteten. Es gebe mehrere solcher Lager, und die SS habe auch eine amtliche Bezeichnung für sie: Vernichtungslager.
In den letzten Wochen seien etwa 2000 Krakauer Juden aus dem Getto weggebracht worden, nicht nach Belzec, sondern in unweit der Stadt gelegene Zwangsarbeitslager. Eines befinde sich in Wielicka, ein anderes in Prokocim, beide also an der Ostbahn, die zur Front in Rußland führte. Aus beiden Lagern bringe man die Juden täglich zur Arbeit nach Plaszow am Stadtrand von Krakau, wo sie Fundamentierungsarbeiten für ein sehr großes Arbeitslager ausführten. In einem derartigen Lager würden sie ein jammervolles Leben fristen müssen, sagte Schindler. Die Lagerbaracken von Wielicka und Prokocim unterstünden einem SS-Oberscharführer namens Horst Pilarzik, der sich im Juni besonders hervorgetan hatte, als 7000 Juden aus dem Krakauer Getto abtransportiert worden waren, von denen nur einer, ein Drogist, zurückgekommen sei. Das geplante Lager Plaszow dürfte einem Mann ähnlichen Kalibers unterstellt werden. Für diese Arbeitslager spreche einzig, daß sie nicht mit den Einrichtungen für systematischen Massenmord versehen waren. Auch sei die Vernichtung der Arbeitskräfte durch Mord nicht beabsichtigt, vielmehr benötigte man sie ebenso wie die noch im Getto lebenden Juden für bestimmte Aufgaben.
Die bestehenden und das geplante Lager fielen in die Zuständigkeit von Scherner und Czurda, den Polizeichefs von Warschau, während die Vernichtungslager direkt dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt in Oranienburg bei Berlin unterstünden. Auch die Häftlinge in den Vernichtungslagern würden vorübergehend für Arbeiten eingesetzt, doch seien sie unweigerlich zum Tode bestimmt, und alles, was sie besäßen - Kleidung, Schmuck, Brillen, ja sogar ihre Haare fänden weitere Verwendung.
Schindler riß plötzlich die Zimmertür auf und lauschte in den Korridor. Er fürchtete offenbar Horcher. Man beruhigte ihn. Das Pannonia sei vergleichsweise sicher. Schindler trat nun ans Fenster und fuhr in seinem Bericht fort. Die Arbeitslager würden dem Kommando von Leuten unterstellt werden, die sich bei der Räumung der Gettos als ausreichend brutal erwiesen hätten.
Es würde also in den Lagern zu Mord und Mißhandlungen kommen, auch würden bestimmt Teile der für die Häftlinge vorgesehen Rationen verschoben werden, was bedeute, daß diese würden hungern müssen. Doch sei das dem sicheren Tod in den Vernichtungslagern vorzuziehen.
Selbst im Lager könne man sich noch etwas organisieren, auch könne man Einzelpersonen freikaufen und nach Ungarn schmuggeln.
Dann sei also auch die SS bestechlich? fragten die Herren aus Budapest. »Ich kenne keinen, der es nicht wäre«, grollte Schindler und beendete damit seinen Bericht.
Kastner und Springmann waren so leicht nicht zu schockieren. Sie kannten von Kind auf das Wirken der Geheimpolizei. Ihre derzeitige Tätigkeit erregte das Mißtrauen der ungarischen Polizei - die durch Schmiergelder bei Laune gehalten werden mußte — und das Mißfallen der ehrbaren Judenschaft. So bezeichnete Samuel Stern, Präsident des Judenrates und Mitglied des ungarischen Senates, Schindlers Bericht, als er informiert wurde, nicht nur als eine bösartige Phantasterei, sondern auch als eine Beleidigung der deutschen Kultur und eine Verleumdung der Absichten der ungarischen Regierung. Aber Springmann und Kastner glaubten Schindler. Sie waren von dem, was sie gehört hatten, nicht völlig erschlagen, nur sahen sie sich vor eine nicht zu bewältigende Aufgabe gestellt. Sie hatten es nicht mit dem bekannten, berechenbaren Goliath der Philister zu tun, sondern mit Behemoth persönlich.
Mag sein, sie überlegten bereits, ob man nicht eine große Rettungsaktion starten müsse, die Unsummen kosten würde, statt sich mit den trotzdem notwendig bleibenden Einzelaktionen zu begnügen, also der illegalen Belieferung eines Lagers mit Lebensmitteln, dem Loskauf von
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