Schischkin, Michail
noch!«
»Ihnen
auch.«
Aljoscha
beugte sich an mein Ohr und machte mich darauf aufmerksam, wie der Priester
den Mütterchen, wenn sie vor ihn hintraten, das Kreuz gegen den Mund schlug,
während er es den jungen Mädchen ganz sanft an die Lippen legte.
Erst fand
ich die Bemerkung ungehörig, doch dann schien es mir lächerlich, ihm wegen
dieser Bagatelle gram zu sein. Wenn er nun umkommt, mein Gott! Wie könnte ich
weiterleben? Und neuerlich wurde mir so bang ums Herz, dass die Knie einknickten
und ich mich an Aljoscha festhalten musste, um nicht zu fallen.
20.
November 1915. Freitag
Namenstagsfeier
bei Anja Trofimowa. Es wurde getanzt und gelacht. Ich bin aufs Klo geflüchtet,
hab mich eingeschlossen und geheult. Wie könnte ich fröhlich sein, da er doch
in drei Tagen abreist - vielleicht für immer!
22.
November 1915. Sonntag
Morgen
geht Aljoscha an die Front.
Wir sind
durch die Straßen gelaufen, uns war kalt, wir sind in den Kinematografen
gegangen. Ich habe nichts gesehen - nur den zappelnden blinden Strahl in der
Finsternis. Es war seltsam, ja, absurd - morgen fährt er an die Front, und wir
sitzen hier und gucken irgendwelchen Quatsch. Ich zog ihn am Arm: »Lass uns
gehen!« Wir sind rausgegangen, ohne den Film zu Ende zu sehen.
Ich weiß
nicht, soll ich das jetzt aufschreiben.
Ich
schreibe es auf.
Wir sind
zu uns gegangen. Hinauf in mein Zimmer. Ich hab die Tür von innen verriegelt.
Das Licht ausgemacht. Ihn umarmt und gesagt: »Nimm mich, Aljoscha!« So standen
wir, mitten im Zimmer, lagen uns in den Armen. Er sagte, er könne so nicht.
»Ich möchte es! Sehr!«, sagte ich. Beide waren wir ängstlich und gehemmt. Nein,
ich schreibe doch lieber nichts.
Ich
verstehe gar nicht, was passiert ist. Ich weiß nur, dass ich alles falsch
gemacht habe!
Es ist mir
sehr schwer ums Herz. Es war peinlich und hat wehgetan. Es ging irgendwie
nicht. Er lief weg, ohne ein Wort der Erklärung. Was nun? Was habe ich falsch
gemacht?
Aljoscha,
ich liebe dich sehr, und mir ist so elend und bang!
23. November
1915. Montag
Heute
haben wir Aljoscha an den Zug gebracht. Alle waren mit am Bahnhof, viele
verschiedene Bekannte. Der Zug stand weit hinten im Gelände, da, wo die
Bahnsteige schon zu Ende sind, wir mussten ein Stück zwischen den Gleisen
gehen. Ich wartete die ganze Zeit, dass Aljoscha zu mir kommt, aber entweder
stand er von Freunden umringt oder bei seinen Eltern. Nach dem, was gestern
war, fühlte ich mich so unwohl und unsicher, dass ich mich nicht traute
hinzugehen. Schließlich kam er, wir umarmten uns. Ich konnte ihm nicht in die
Augen sehen. Ringsum viele Frauen: Die einen verabschiedeten ihre Söhne oder
Brüder, die anderen ihre Geliebten, überall flossen Tränen, nur ich stand wie
eine Salzsäule. Schmiegte mich an seinen Militärmantel und sah irgendwie teilnahmslos
den Soldaten zu, wie sie über Planken in den Waggon hineinliefen. Wie die
Planken sich unter ihnen bogen.
Und als
sich hinterher alles verlief, da konnte ich mit einem Ohr jemanden wispern
hören: »Er kommt vielleicht nicht wieder, und sie vergießt keine Träne« - damit
war ich gemeint. Ich weiß sogar, wer das sagte.
Dann kam
ich nach Hause, und das große Heulen fing an.
Aljoschenka,
wie soll das jetzt gehen ohne dich?
Er hat mir
zum Abschied eine Uhr geschenkt, mit einer Strähne von seinem Haar im Deckel.
24. November
1915. Dienstag
Tag eins
ohne Aljoscha.
Katharinentag.
Vormittags gab es eine literarisch-musikalische Matinee für die unteren
Klassen, abends ein Festkonzert für die oberen. Ich bin nicht hingegangen.
Komme
gerade von Nina Nikolajewna. Trug den Monolog »Ich bin allein« vor und brach
mehrmals ab, musste immer wieder neu ansetzen: »Ich bin allein...« Dabei dachte
ich: So ein Quatsch, ich bin überhaupt nicht allein und nicht dort, wo das
Stück mich haben will, sondern in dem Zimmer hier, das streng nach alter Frau
riecht. Vor mir auf dem Tisch eine Karaffe Wasser, das erst eine Weile stehen
und sich mithilfe eines hineingeworfenen Silberlöffels läutern muss, sonst mag
die alte Frau, die Kindchen zu mir sagt, es nicht trinken. Und unversehens erscheinen
mir all die auf der Bühne zu sprechenden Worte wie Lügen, wie grober Unfug.
Derweil beginne ich von vorn: »Ich bin allein...«
Und da
begriff ich: Was ich hier lerne, ist nicht die große Kunst. Ich lerne lügen.
Das war mir auf einmal sehr zuwider, ödete mich an. Recht und schlecht leierte
ich den Text herunter und
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