Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
Vom Netzwerk:
tot. Aber das kannst du noch nicht verstehen.«
    Ich sprach
meinen Monolog und musste auf einmal heulen - wegen Aljoscha. Nina Nikolajewna
wurde zornig, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Echte Tränen weinen,
das darf nicht passieren!«, schrie sie mich an. »Das Publikum soll glauben,
dass du weinst, aber du darfst es niemals wirklich tun!« Ich war außerstande
weiterzumachen, versuchte auch gar nicht erst zu erklären, wieso, sagte zur
Entschuldigung nur, ich fühlte mich nicht gut, und ging.
     
    18. November
1915. Mittwoch
    In einer
Woche ist er fort.
    Aljoscha,
mein Bräutigam. Ich, seine Braut. Heute haben wir es seinen Eltern gesagt. Die
Mama hat geweint, sie ist immer noch schockiert, dass Aljoscha an die Front
geht; der Vater hat mich geküsst und sehr schön und gewählt gesprochen. Mich
seine Tochter genannt. Als er uns mit der Ikone den Segen geben wollte, hielt
er sie verkehrt herum, was nur der kleine Timoscha merkte, der zu prusten
anfing, daraufhin mussten alle lachen. Es war so unkompliziert und angenehm!
    Sobald ich
dieses blöde Gymnasium hinter mir habe, lassen wir uns trauen.
    Mama
möchte ich es noch nicht sagen, Vater auch nicht. Später, nicht jetzt. Denn
ich weiß, es endet wieder mit Gezeter und Baldrian. Das will ich nicht.
    Aljoscha
brachte mich nach Hause, unterwegs betraten wir die
Alexander-Newski-Kathedrale. Es war voll, viele Auswärtige. Die Stadt ist ja
mit Flüchtlingen überfüllt, von überallher kommen sie an: Armenier aus dem
Süden, die sich vor den Türken in Sicherheit bringen, Galizier aus dem
Südwesten, Polen, Ukrainer und Juden (denen man jetzt außerhalb der
Ansiedlungsrayons zu wohnen gestattet) aus dem Westen und Balten aus dem Nordwesten.
    Wir
standen mit Kerzen in Händen, und ich malte mir aus, wie wir hier die Ehe
schließen würden. Ließ den Blick wandern - über die Kerzen, die Fresken der
Wasnezows, das Fußbodenmosaik, die Marmoraltäre und -Ikonostasen, die
kanadischen Pappeln draußen vor den Fenstern, das hallige Gewölbe, den Duft von
Weihrauch und geschmolzenem Wachs - und schloss mit ihnen allen einen
heimlichen Bund: dass wir wiederkommen. Dass sie auf uns warten.
    Aljoscha
beugte sich an mein Ohr und machte mich darauf aufmerksam, wie der Priester den
Mütterchen, wenn sie vor ihn hintraten, das Kreuz gegen den Mund schlug, während
mitten im Satz zirpte das Handy.
    »Baumann,
Direktion für Soziales und Sicherheit.«
    Alles
klar: Sie suchen einen Dolmetscher.
    »Grüezi,
Herr Baumann. Kann ich Ihnen helfen?«
    »Wir haben
einen Dringlichkeitsfall, hätten Sie jetzt Zeit zu kommen?«
    »Nein,
Herr Baumann, es tut mir leid, aber ich kann nicht.«
    »Schade.
Es ist eben sehr dringend. Und ich kann niemanden finden. Vielleicht könnten
Sie sehr kurz bei uns vorbeikommen? Ich habe da einen jungen Mann bei mir, ich
muss ihm etwas mitteilen. Aber er versteht nichts, weder Deutsch noch
Englisch.«
    »Es geht
wirklich nicht, Herr Baumann. Ich bin jetzt in Rom.«
    »In Rom?
Schön! Wissen Sie was, vielleicht könnten Sie ihm etwas per Telefon ausrichten?
Nur ein paar Worte. Der junge Mann steht hier neben mir, ich gebe ihm den
Hörer, und Sie sprechen kurz mit ihm.«
    »Gut. Was
soll ich ihm sagen?«
    »Also, er
heißt Andrej. Es geht um zwei Brüder, Asylsuchende aus Weißrussland, aus Minsk.
Sagen Sie ihm, dass sein Bruder Viktor gestern um 18 Uhr vor dem
Durchgangszentrum in Glatt bewusstlos aufgefunden wurde. Er lebte noch, aber
starb auf dem Weg ins Spital. Es ist nicht klar, was passiert ist. Entweder hat
ihn jemand aus dem Fenster gestoßen, oder es war ein Selbstmord oder ein
Unfall, die Ermittlungen laufen noch. Alles zeugt davon, dass er betrunken war.
Er ist vom dritten Stock mit dem Hinterkopf auf den Asphalt gefallen. Wir
haben versucht, Andrej das zu erklären, aber er hat nichts verstanden. Das ist
alles.«
    »Gut, Herr
Baumann, geben Sie ihm den Hörer.«
    Der Hörer
sprach zu mir mit verschreckter, ganz jungenhafter Stimme: »Hallo?«
    »Andrej,
pass mal auf. Dein Bruder Viktor...«
    »Ist was
mit ihm passiert?« Die Stimme im Hörer war ganz leise geworden. Ich sagte, was
zu sagen war.
    Eine Zeit
lang schwieg es im Hörer. Dann war ein seltsamer Laut zu hören, etwas wie
Schluckauf. »Hallo, Andrej, hörst du mich?« Gepresst, durch den Schluckauf:
»Ja.«
    »Gib Herrn
Baumann den Hörer.«
    Dann
wieder die muntere Polizistenstimme: »Baumann.«
    »Ich habe
es ihm gesagt, Herr Baumann.«
    »Merci
vielmals! Und schönen Tag

Weitere Kostenlose Bücher