Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
Vom Netzwerk:
Vorstoß, als wir uns plötzlich Auge in Auge den
Deutschen gegenübersahen. Ich habe zum ersten Mal mit dem Gewehr auf einen Menschen
geschossen. Mir mangels Erfahrung gleich beim ersten Schuss den Wangenknochen
geprellt. Wir hatten gerade erst die Schützengräben bezogen, da wurde mir ein
Verletzter entgegengetragen, und es war Wassilenko, der Soldat - ich schrieb
Dir von ihm, Du erinnerst Dich? - der mir das Gebet beibrachte. Ich musste mich
gegen die Grabenwand pressen, um ihn vorbeizulassen. Obschon mehr als einen
Monat an der Front, sah ich zum ersten Mal einen aufgerissenen menschlichen
Körper. Mir wurde übel, ich wäre am liebsten davongelaufen. Zum ersten Mal
blitzte der Gedanke auf, Sterben könnte auch so vor sich gehen - mit viel
sinnloser Quälerei davor.
    Die
Deutschen gingen zum Angriff über, es kam zum Kampf Mann gegen Mann. Ich habe
niemanden getötet. Oder vielleicht doch, wer weiß. Ich weiß nur: Ich wäre ein
toter Mann gewesen, hätte Kowaljow mich nicht gerettet. Ein Deutscher kam auf
mich zugesprungen, hatte schon zum Bajonettstich ausgeholt, da schoss Kowaljow
ihn mit dem Revolver nieder. Er stürzte. Der Schuss war in den Mund gegangen.
Er presste sich die Hände auf die zerfleischte Wange. Aus dem Mund sprudelte
das Blut. Er lag da und schaute uns an. Kowaljow ging hin und schoss dem
Liegenden ins Auge. Der Deutsche lebte noch kurze Zeit, schaute uns mit dem
linken Auge an, das Lid zuckte. Die blutigen Zahnstümpfe werde ich auch nicht
vergessen.
    Mein
Liebes, was tue ich da, warum schreibe ich Dir das alles? Verzeih mir!
     
    25.
Dezember 1915.
    Weihnachten.
Grauenvoll. Entsetzlich. Zu Hause ist es unerträglich. Alle sind miteinander
verzankt und verstritten. Und nicht einmal Aljoscha kann ich davon schreiben.
    Papa hat
sich mit Mama überworfen und ist auf und davon, zu seiner anderen Familie.
    So saßen
wir ohne ihn am Tisch und schwiegen uns an. Das Heiligabendessen - der Gerstenbrei
ohne Milch und Butter, das Kompott mit Zimt und Rosinen - wollte nicht
rutschen. Wir warteten auf den Stern, doch es fiel nur eine Menge Schnee.
    Sascha, um
überhaupt etwas zu sagen, behauptete, der Stern von Betlehem sei die Venus.
Darüber zerstritten wir uns in kürzester Zeit, brüllten aufeinander ein. Ich
fing an zu heulen und floh auf mein Zimmer.
    Weihnachten,
das Fest der Liebenden, der Familie. Wir sind schon lange keine Familie mehr.
    Papa ist
jetzt dort, bei seinem anderen Kind. Wahrscheinlich packen sie gerade Geschenke
aus.
    Aljoscha,
ich kann nicht ohne dich sein! Das Leben ohne dich will mir so gar nicht
gelingen!
     
    29.
Dezember 1915. Dienstag
    Hurra!
Heute erhielt ich das Päckchen von zu Hause und - nochmals hurra! - entnahm
ihm den von Dir gestrickten Schal, klappte ihn auf und gewahrte auf einmal den
Duft Deines Parfüms, den die Poren der Wolle in sich trugen - Deinen Duft! Den
Duft meiner Geliebten aus einem sprechenden Schal! Das glaubt ja keiner, wie
gerne ich Dich jetzt umarmen, mein Gesicht in Dein Haar vergraben, es
beschnüffeln, einatmen, küssen würde!
    Weihnachten
müssen wir in den Stellungen verbringen. Sehr bedauerlich, dass aus dem Besuch
der Christmette nichts wird.
    Ich
blätterte aufs Geratewohl im Evangelium, das mir Mama mitgegeben hat, las in
den Offenbarungen des Johannes, und mir kam der Gedanke, die Apokalypse könnte
ein Ausdruck der Angst vor dem eigenen Tod sein. Wenn alle zugleich sterben,
ist das eine tröstlich ausgleichende Gerechtigkeit. Angst vor dem Tod hat mit
der Kränkung zu tun, aus dem Leben zu scheiden, während andere weiterleben und
zu sehen kriegen, was einem selbst auf ewig hinter der letzten Biegung
verborgen bleibt. Das eigentlich Gemeine an der Apokalypse ist also vor allem,
dass sie nicht eintreten wird.
    Ich
versuchte zu schlafen, es gelang wieder einmal nicht. Also sitze ich und
kritzele die Gedanken aufs Papier, die dem Hirn die Nachtruhe versagen.
Eigentlich ist die Apokalypse genau das, was wir hier haben, nur ein bisschen
über die Zeit hin verwischt: tagtägliche Tortur in Eis und peitschendem
Schnee, wo alle sterben, nur nicht auf einmal. Was im Grunde keinen Unterschied
macht, wenn so oder so ganze Welten, Generationen, Imperien entfleuchen... Wo
ist hier Byzanz? Wo sind die Römer und wo die Hellenen? Fehlanzeige. Keiner
mehr da, weder Sieger noch Besiegte. Alles den Bach runter - nur ohne
Theaterdonner, von wegen: »und der Himmel entwich wie ein eingewickelt Buch« -
viel profaner. Der Mensch hat den Hang, aus allem

Weitere Kostenlose Bücher