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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Memoiren!«
    Leute gibt
es, die wollen auf jedem Begräbnis die Leiche sein!
     
    28. Juli
1919. Sonntag
    Aufgewacht
mit dem Gefühl, dass ich mit Pawel reden muss. Am besten noch heute,
unverzüglich. Das Gespräch ist nicht länger aufzuschieben.
    Ich ging
zu ihm in sein neues Labor, wo ich vorher noch nicht war - in den Räumen von
Meiersons Lichtbildnerei auf der Sadowaja, die die Oswag für ihn requiriert hat.
    Als ich
hinkam, wusste ich nicht, wie anfangen. Pawel war dabei, Abzüge zu machen von
seiner letzten Dienstreise. Furchtbar. Er redete die ganze Zeit. Konnte gar
nicht aufhören. Er musste das alles loswerden. Und ich brachte es nicht fertig,
ihn zu unterbrechen. Was für ein Grauen überall! Nichts Menschliches ist mehr
geblieben! Er hat Hinrichtungen fotografiert. Kosaken und Offiziere posierten
bereitwillig. Zwei auf einmal wurden gehängt, das Seil über eine Strebe gelegt,
sodass die beiden sich gegenseitig erdrosselten. Einer sollte am Straßenrand
erschossen werden, er brüllte: »Seid ihr verrückt, stellt mich wenigstens vor
eine Mauer, hinter mir fahren Leute vorbei!«
    So standen
wir im Schein der roten Lampe, und es war grauenvoll zu sehen, wie in der Wanne
vor uns die entstellten Kindergesichter hervortraten. Ich schloss die Augen,
konnte nicht hinsehen, während er erzählte, was er bei den Kalmücken erlebt
hat. Die Bauern aus den russischen Dörfern haben es seit Langem auf deren Grund
und Boden abgesehen, und deshalb sind die den Bolschewiki zur Hand gegangen und
haben die Kalmücken ausgerottet, ganze Dörfer ausradiert, die bei ihnen Choton
heißen. Jeder, der nicht rechtzeitig das Weite suchte, wurde totgeschlagen.
Das geschah im Großen Derbetischen Ulus, wenn ich mich recht erinnere. Pawel
hat die abgefackelten buddhistischen Tempel (Churule) fotografiert. Alles
verwüstet, mit Fäkalien besudelt. Zerschlagene Buddhastatuen. Zerfetzte heilige
Bücher. Die Schreine mit den Seidenstoffen, die sie anbeten wie unsereins die
Ikonen - ausgeraubt. Dabei stammt das alles aus dem Tibet. In einem Tempel
haben sie die sterblichen Überreste eines Lama ausgebuddelt, die Gebeine auf
die Straße geworfen. Was ist bloß aus den Menschen geworden - Bestien, mein
Gott!
    Pawel hat
die geschändeten, arm- und beinlosen buddhistischen Skulpturen eingesammelt
und nach Rostow mitgebracht, er will eine Ausstellung organisieren.
    Ich nahm
eine Statuette in die Hand. Einen kleinen Buddha mit abgeschlagenem Kopf.
    Pawel
versuchte mich zu küssen. Ich konnte nicht. Stieß ihn weg. Er legte den Arm um
mich und sagte: »Verstehe.« Dabei hätte ich ihm die Krallen ins Gesicht
schlagen wollen und rufen: Nichts verstehst du! Gar nichts!
    Was er
noch erzählt hat: Beim Ritt durch die Steppe sahen sie auf einmal Schweine.
Zwei Männer wurden hingeschickt, ein Ferkel einzufangen. Sie ritten hin,
standen eine Weile, kamen zurück. »Warum habt ihr nicht zugegriffen?« - »Die
haben Menschenfleisch gefressen.«
    Überall
hingen Fotografien zum Trocknen. Ich konnte nicht mehr hinsehen. Mir war übel.
An einem Bild saugten meine Augen sich fest: aus dem Sand ragende nackte Füße.
Ganz weiß. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden. Mir fiel mein Bruder
ein, den wir als Kinder einmal am Fluss in den Sand eingruben, so tief, dass
nur der Kopf herausschaute, die Hände und die Fußsohlen. »Grabt mich wieder
aus!«, rief Sascha. Wir aber lachten nur und kitzelten ihm die Sohlen.
Plötzlich war mir, als wäre das auf dem Bild Sascha. - »Bellilein, bitte,
beruhige dich! Ich hätte dir das nicht zeigen dürfen. Aber versteh mich, mit
wem soll ich sonst darüber reden?!« - »Lass mich!« Ich stürzte davon, Türen
knallend. Rannte nach Hause und sah die ganze Zeit diese nackten weißen Füße
vor mir.
     
    29. Juli 1919. Montag
    Heute kam
Musja vorbei. Ich hatte sie lange nicht gesehen. Wie erwachsen sie geworden
ist, was für eine schöne junge Frau! Sie warf sich an meine Brust. Tränen!
Nanu? Zog einen Brief aus der Tasche. Liebe Musja! Ich liebe Dich sehr! Ein großer
Liebesbrief mit Grammatikfehlern und der Drohung am Ende, sich umzubringen.
»Liebst du ihn?« - »Nein.« - »Dann mach dir nichts draus!« - »Aber was soll ich
denn jetzt tun? Wenn er sich nun wirklich das Leben nimmt?« - Ich streiche ihr
über den Kopf. »Dann ist es eben so!« - »Wie kannst du so reden!« Gekränkt lief
sie fort. Ich rannte hinterher, wollte sie zurückrufen, aber sie war schon weg.
    Ich musste
an Torschin denken: »Aus Liebe

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