Schischkin, Michail
auf unseren Saschenka an.
Verschiedene
Erinnerungen kamen hoch. Alles wie aus einem fremden Leben. Uns fiel ein, wie
Sascha einmal schreiend ins Zimmer gestürmt kam: »Ihr wisst es wohl noch gar
nicht?!« Alle erschraken, Mama griff sich ans Herz. Die Hündin vom Nachbarn
hatte Junge bekommen, darum ging es. Ich sehe noch vor mir, wie Mama zum Büfett
wankte, wo sie das Fläschchen mit den Kirschlorbeertropfen stehen hatte, während
Katja, Mascha und ich lachten und losliefen, die Welpen besichtigen. Am selben
Tag kam dann die Nachricht vom Ausbruch des Krieges.
Mama hat
neuerdings immer den alten Awwakum auf dem Nachttisch liegen. Hin und wieder
bringt sie den Satz an: »Kommt Zeit, kommt Leid. Nicht nachlassen sollt ihr zu
leiden.« Sie habe diese Worte irgendwann einmal gelesen und sich gemerkt, ohne
sie eigentlich verstanden zu haben, sagte sie heute. »Jetzt kommt mir ihr Sinn
ganz einfach vor: Bestraft werden gar nicht die Sünden, bestraft wird das
Glück. Alles hat seinen Preis: Glück wird mit Leid bezahlt, Liebe mit
Geburtswehen, die Geburt mit dem Tod.«
Wir
dachten zurück an das Grauen im Februar letzten Jahres - was wir damals
durchmachten, als Sascha sich mit anderen Studenten und Schülern aus General
Borowskis Studentenregiment - denen, die nicht mit Kornilow ausgerückt waren -
mehrere Tage auf dem Klosterfriedhof vor den Roten versteckt hielt. Die armen
Jungs hausten in den Grüften. Bei Frost! Einer schlich sich nachts zurück in
die Stadt und ließ seinen Eltern eine Nachricht zukommen, die von Hand zu Hand
ging und so auch uns erreichte. Ich lief hin, brachte ihm warme Kleidung und
Essen. Mit Bündeln zu gehen wäre verdächtig gewesen, also verstaute ich so viel
Wäsche am Leib, wie irgend ging, zwängte mich durch ein Loch im Friedhofszaun,
um nicht am Haupttor gesehen zu werden. Auch eine Menge Offiziere hielten sich
in abseits gelegenen Grüften des Friedhofs versteckt. Einer sei
übergeschnappt, erzählte Sascha, und habe laut zu singen angefangen, man musste
ihn ersticken, damit er die anderen mit seinem Gebrüll nicht verriet. Über
Frau Doktor Kopija, deren Mann mit den Freiwilligen gegangen ist, beschaffte
Papa falsche Papiere, und eines Nachts gelang es Sascha und ein paar Kameraden,
davonzukommen und sich zu ihnen durchzuschlagen. Wenig später gab es eine Denunziation,
der Friedhof wurde umstellt, das Versteck ausgehoben, und die dort Verbliebenen
wurden alle erschossen.
Überall
fanden Haussuchungen statt. Aus Angst - um Sascha - haben wir damals eine Menge
Papier verbrannt, auch mein Tagebuch starb den Flammentod.
Mama
sammelte alle unsere Goldsachen ein und vergrub sie in einer Blechdose, die wir
dann nicht wiederfanden. Wahrscheinlich hat jemand zugesehen und sie ausgegraben.
Und Saschas nagelneues Fahrrad, mit dessen Beschlagnahme man rechnen musste,
zerlegte Papa, der damals noch hier wohnte, in seine Einzelteile und stopfte
sie in alle möglichen Winkel der Wohnung. Ich weiß noch, wie stolz Sascha auf
sein Dux gewesen war. Papa und er hatten vor dem Kauf lange darüber diskutiert,
was besser ist, unser Dux oder die ausländischen Marken, Triumph oder
Gladiator.
Wir
erinnerten uns an die Haussuchung - wie diese betrunkenen Männer bei uns
eindrangen, ihre bissige Frage: »Was wissen Sie über Ihren Sohn?« Und
dann ging der Albtraum los. Tapeten wurden von den Wänden gerissen, Dielen aus
dem Fußboden gebrochen. Tee wollten sie dabei auch noch trinken, wir mussten
ihnen Wasser aufsetzen. Über Haussuchungen hatte ich bis dahin nur Tosja
Gorodisskaja erzählen hören, deren Bruder Petja am Kubanfeldzug teilnahm und
dort irgendwo gefallen ist. Immer wenn Tosja zähneknirschend darüber
lamentierte, wie und was man ihnen alles weggenommen hatte, fragte ich mich im
Stillen, wie man den Dingen so nachtrauern kann. Ihr Vater ist ein wohlhabender
Börsenmakler. Es lässt sich doch auch ohne Silber und Perserteppiche leben!,
dachte ich. Was ist dabei, wenn Leute, die ein Leben lang im Schweiße ihres
Angesichts gearbeitet haben und trotzdem nichts besitzen, sich das Land oder
das Haus oder die Möbel nehmen, die ihnen nach einem arbeitsreichen Leben
zustehen und um die man sie im Grunde betrogen hat! Doch nicht durch eigner
Hände Arbeit hatte Tosjas Vater seine Paläste erworben! Sie hätten von sich aus
mit anderen teilen sollen und etwas für sie tun. Als Reicher in einem armen
Land leben, sich auch noch seines Reichtums brüsten - wie schmählich! Die Vergeltung
geschah
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