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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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wird dir sagen, es rühre daher, dass du in
einem früheren Leben ertrunken bist. Aber das ist alles Blödsinn: Es gibt kein
früheres Leben, das Leben ist eins, und in ihm lag dein Vater, er war neunzehn,
mit seinem Boot auf dem Grund der Ostsee - nach einem missglückten Versuch,
einen deutschen Transport zu torpedieren, der gegen Ende des Krieges von Riga
aus nach Deutschland fuhr, mit Truppen, vor allem aber Flüchtlingen an Bord.
Das hat er dir doch erzählt! Ringsum Explosionen von Wasserbomben, nach einer
fiel die Notbeleuchtung aus, absolute Finsternis, das Ende schien nah, die
benachbarte Zelle wohl schon geflutet, denn dort hämmerten sie gegen die Luke,
obwohl man sich doch besser nicht rührte, was immer auch geschah. Und da bekam
dein Vater eine Angst, die war so groß, dass sie nun in dir wohnt. Und
überhaupt kommuniziert alles und jedes miteinander wie in einem Baum:
Sichtbares und Unsichtbares, Knorriges und Zartes, Wipfel und Wurzel. Die
Wurzeln sind der Mund. Das Laub ist die Brut. Der Pollen die Liebe. Es scheint
nur so, als existierte alles getrennt, als wäre die Schallplatte, die dein
Vater im Souterrain auf dem mit Isolierband geschienten Plattenspieler hörte,
eine Sache für sich, als wäre Dracula, der die Menschen glücklich zu machen
scheiterte, gesondert zu betrachten, als wäre dieser unentwegt vor sich hin
plappernde und mit dem Handfeger raspelnde Pinocchio in Unterhosen wieder etwas
anderes. Natürlich ist ein Mensch, von jenen paar Gramm abgesehen - nenn sie
Staub, nenn sie Gott, der Name spielt keine Rolle -, auch bloß Tier, ist
Pflanze und Mineral obendrein. Haare, Nägel, Dickdarm vegetieren nach den
Gesetzen der Pflanzenwelt. Mineralisch gesehen sowieso keine Frage. Kurzum:
Blinddärme, die einfach nicht zur Ruhe kommen, und widerspenstige Locken, die
sich nichts sagen lassen wollen, sind tatsächlich bei jedem verschieden. Aber
jene flüchtigen Gramme - das ist etwas ganz anderes.
    Frage: Wie kann
etwas anders sein, das gar nicht da ist?
    Antwort: Dein
Blick, der am Spiegelbild der Lampe im nächtlichen Fenster hängt, deine
Stimme, die sich vor dir unterm Bett verkriecht oder durch das Oberfenster
entfleucht, die Worte, die du schreibst, ganz zu schweigen von den Milchzähnen,
die deine Mama in einer Vaselinedose gesammelt hat - das bist alles nicht mehr
du. Was aber nicht heißt, dass es dich nicht mehr gibt. Und genauso verhält es
sich mit dieser Nacht, mit dem Stück Strauch vor dem Fenster, das vom darauf
fallenden Lampenlicht fahl ist, dem Rumoren eines Flugzeugs und dem kurzen
Pfeifkontakt zwischen dem Nachbarn und seinem Schlüsselfinder - als wünschten
die beiden einander Gute Nacht - all das liegt am Morgen hinter uns, was aber
nichts heißt.
    Frage: Und wenn
ich noch nie etwas vom Stamme der Aruntas gehört habe - die an den Stein
Eratipu glauben als den Hort der Kinderseelen, welche sich durch das Loch im
Stein eine der Frauen ausgucken, die wiederum an dem Stein vorübergehen in der
Gewissheit, dass ihnen auf solche Weise ein Kind in die heiße, feuchte Spalte
gerät -, dann muss das nicht heißen, dass dieser Stamm nicht existiert. Und
wenn in der Stadt Colmar, die man in Russland nur als den Geburtsort von
Puschkins Mörder kennt, irgendwo in einer Seifenschale ein Stück Seife sich zur
Qualle verwandelt, und ich weiß davon nichts, so ist meine Ahnungslosigkeit
doch wohl kein Indiz für die Unmöglichkeit solcher Metamorphose? Und wenn die
alte Frau im sechsten Stock seit einer Woche nichts mehr aus dem Fenster wirft,
heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr da ist.
    Antwort: Du bist
immer noch der Alte. Man kann mit dir nicht ernsthaft über etwas reden. Und
wenn einer einmal sagte, ich schlafe, als kraulte ich, und spürte ich im
Halbschlaf einmal, wie seine Lippen vorsichtig, mich nicht zu wecken, meine
Hand berührten, dann... Soll nicht gewesen sein, was doch gewesen ist?
    Frage: Ich
beginne zu verstehen, was du sagen willst. Auf dem Nachhauseweg heute sah ich
eine totgefahrene Katze. Von Autoreifen breit gewalzt wie ein Blatt Papier.
Aber nur in unserer Welt ist sie jetzt wie ein Schatten auf dem Asphalt so
flach, in Wirklichkeit ist sie dreidimensional wie wir und hascht auf Seite xy
mit der Pfote nach Schneeflocken.
    Antwort: Aber ja!
Der Punkt sieht die Zeile als Linie und denkt sich die Fläche dazu. Jemand
liest diese Zeile und sieht die Seite als Fläche, die aber nur Abbild ist,
Darstellung eines räumlichen Körpers: des alten Hefters

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