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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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auf dem Tisch mit dem
Tassenrand darauf. Oder der Motte hier, die sich nach der Lampe verzehrt. Oder
dieses unbequemen Wattekissens. Oder von mir. Oder von dir. Wo bist du mit den
Gedanken?
    Frage: Ich denke
daran, dass es dich nirgends mehr gibt, nur noch hier auf diesen Seiten.
    Antwort: Du hörst
mir überhaupt nicht zu!
    Frage: Entschuldige.
Sprich nur weiter!
    Antwort: Also, ein
denkender Schatten weiß, dass er nur ein Abbild des Wanderers ist, den er weder
sehen noch hören noch begreifen kann. Er besteht aus dem Weg und dem Gras und
den Stufen und den Dielen und der Wand und allem, worauf er sonst noch fällt.
Er kann Tier sein, Pflanze und Mineral zugleich. Doch der Wanderer ist das
Wesentliche an ihm. So sind auch wir lediglich der Schatten von einem, den wir
nicht sehen noch hören noch begreifen können. Und unser Körper ist nur der
Schatten unserer anderen, ureigentlichen Existenz - hier, fass mal mein Knie
an.
    Frage: Es ist
rau.
    Antwort: Das
genügt, nimm deine Hand wieder weg!
    Frage: Aber wer
ist dieser Wanderer?
    Antwort: Wozu musst
du das wissen? Wanderer, Schnee, Blütenstaub - das sind alles Wörter.
Entscheidend ist, dass wir dort, wo Wanderer, Schnee und Blütenstaub sind, ein
Kontinuum bilden. Wie kann ich es dir nur begreiflich machen? Jetzt gerade,
merkst du, riecht es brenzlig - da hat sich die Motte ihre Flügel an der heißen
Lampe versengt, und der Regen hat wieder angefangen - es regnet aber keine
Tropfen, sondern Buchstaben vom Himmel: T, r, o, p, f, e, n - hörst du sie auf
das Fensterbrett trommeln? Auch der Geruch verbrannter Mottenflügel - lauter
Buchstaben. Und wir alle sind ein großes Ganzes.
    Frage: Dieser
Mottenflügelgestank ist penetrant, wir müssen lüften. Lass uns das Fenster
aufmachen.
    Antwort: Tu das,
ich warte so lange.
    Frage: Der Regen
ist lautlos und unsichtbar. Nur die Tropfen, die dicht vorm Fenster ins
Lampenlicht geraten, blitzen auf. Ganz wenige dicke, längliche Tropfen. Als
würfe die Alte aus dem sechsten Stock weiße Stifte vom Balkon, die keinem auf
der Welt etwas nützen. Hält jeden einzeln mit spitzen Fingern und lässt los.
    Antwort: Komm
wieder her, schnell! Mir ist kalt.
    Frage: Wir sprachen
doch von etwas ganz anderem, sag mal. Was war das doch gleich?
    Antwort: Wir
sprechen die ganze Zeit von der Liebe. Das haben wir beide noch nie getan. Es
war, als vermieden wir das Wort mit Bedacht. Wahrscheinlich kam es uns
unangemessen vor, alles, was man da fühlt, in ein so schmales Wort
hineinzutrichtern?
    Frage: Aber was
bleibt einem sonst? Soll man deswegen ein neues Wort erfinden? Neue Buchstaben
ausdenken?
    Antwort: Du willst
mich schon wieder foppen. Als ginge es um das Wort! Nenn es, wie du lustig bist
- nimm das Wort Wanderer dafür oder Blütenstaub oder Gott. Warum nicht
Tausendfüßler? In der einen Dimension hat er sich zwischen den prallen, regenschweren
Phloxstängeln unter einem Ziegelstein versteckt, in der anderen ist er einfach
überall. Liebe, das ist so ein spezieller Tausendfüßler in Gottesgröße. Fußlahm
wie ein Wanderer, der ein Obdach sucht. Allgegenwärtig wie Blütenstaub. Er
zieht sich jeden von uns an wie einen Strumpf. Wir passen wie angegossen,
fügen uns der Form des Fußes. Die Liebe läuft in Strümpfen, das sind wir. Und
in diesem Tausendfüßler sind wir alle gleich. Nicht nur tausend Füße hat er,
sondern so viele, wie die Menschheit hat. Wir sind die Zellen, aus denen er
sich zusammensetzt - jeder eine Zelle für sich, doch ein gemeinsamer Atem hält
uns am Leben. Wir merken gar nicht, dass wir in einer unsichtbaren,
ungreifbaren vierten Dimension leben: der Tausendfüßlerliebe. Wir sehen uns
bloß in dreien - so wie die platt gewalzte Katze auf der Straße, die in
Wirklichkeit mit der Pfote Schneeflocken fängt.
    Frage: Deine Füße
sind eiskalt.
    Antwort: Du hast
mir wieder mal nicht zugehört. Weißt du noch, ich habe dir erzählt, dass ich
mich als Kind immer fragte, wozu man da unten Haare hat, und deine Antwort war
einfach: »Um sie zu küssen.«
    Frage: Ich
erinnere mich. Es war sehr heiß, wir liefen nackt durch die Wohnung. Fuhren
baden, ich holte mir einen Sonnenbrand. Du sagtest, man müsse die verbrannte
Haut mit saurer Sahne bestreichen. Sahne war keine da, nur Kefir. Dass es mit
Kefir nicht funktioniere, erklärtest du, darauf ich: Ist doch egal, Hauptsache
- kalt! Ich lag auf dem Bauch, du schmiertest mir den eisigen Kefir aus dem
Kühlschrank auf den Rücken. Wir hatten gerade renoviert, auf dem

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