Schischkin, Michail
die Schwanenkönigin, ich der Frosch. Sie hatte dann mit diesem Letten
etwas laufen, und ich störte. Bis zu diesem Sommer war Mama schier mein Ein und
Alles, mein großes Vorbild. Plötzlich sah ich sie mit anderen Augen. Und eines
Tages am Strand, Mama spielte Volleyball, ich saß nahe dem Wasser im Sand und
haderte mit mir und der Welt und dass ich nichts und niemanden hatte, wischte
mir die Spritzer aus dem Gesicht - da spürte ich auf einmal das Salz auf meiner
Haut, so wie einst als Kind. Und ich dachte mir ein Omen aus: Wenn die vierte
Welle mir die Zehen leckt, kommt die Liebe zu mir - die große, echte Liebe, die
fürs ganze Leben hält. Aber die Wellen schienen irgendwie siech und kraftlos,
jede kürzer als die vorige: die zweite war so, die dritte... Die vierte Welle
nahm Anlauf, streckte sich - und kam. Nahm sämtliche Zehen ganz in ihren Mund,
selbst die Fersen wurden noch vom Sand gekitzelt! Was da mit mir losging! Ich
saß da und sah, hörte, roch mit einem Mal, was um mich war: das Meer, den
Himmel, den Wind, die Möwen, die Menschen - aber nein, das hatte schon nichts
mehr mit Sehen und Hören und Riechen und Tasten zu tun, sondern mit Liebe. Ich
war nicht mehr Herrin meiner Sinne. Augen, Ohren, Arme und Beine gehörten ihr
und nicht mehr mir. Ich sprang auf und flog durch das Wasser, flog im
buchstäblichen Sinne wie ein Vogel, nur mit den Zehenspitzen das Wasser
berührend - aber wo sollte ich hin mit so viel Liebe? Was damit anfangen?
Frage: Einmal
machten wir auf dem Fluss eine Dampferfahrt. Es sah nach Regen aus, sie hatte
einen Schirm von zu Hause mitgenommen: keinen zum Zusammenschieben, sondern so
einen uralten, großen, verblichenen, auf den man sich beim Gehen stützen konnte
wie auf einen Spazierstock. Wir saßen an Deck, es blies ein heftiger Wind. Sie
warf die Sandalen ab und steckte die bloßen Füße in den Schirm hinein, um sie
vor dem Wind zu schützen. Dann zog sie ihn zu sich heran und verschwand halb in
den Speichen und dem Stoff dazwischen. »Sieh doch«, rief sie, »ich habe keine
Beine mehr, ich habe da jetzt einen Schirm!« Sie hob und senkte ihn wie einen
eingerollten Fischschwanz, klopfte damit gegen das Deck. »Sag mal, dieses
Wesen, halb Frau und halb Fisch, nennt sich Nixe, aber wie heißt eine, halb
Frau und halb Schirm?« - »Schickse?«, schlug ich vor. »Pass bloß auf!«, entrüstete
sie sich lachend. »Nein, ich weiß, ich bin eine Parapluiselle!«
Antwort: Nun sag
doch mal, was aus ihr geworden ist.
Frage: Die
Menschheit sei ein Zweig, auf dem wir sitzen und ausschlagen wie Blätter aus
den Knospen, so hatte sie es irgendwo gelesen. Die Blätter fallen ab, der Zweig
wächst weiter. Und sie verfiel darauf, dass sich in ihr die Seele eines toten
Kindes angesiedelt habe, da gab es irgendein Geschehnis in ihrer Familie, ich
erinnere mich nicht genau. Anders als mit Karma lasse sich der Tod von Kindern
nicht erklären, meinte sie - wer bringe schon ein Kind um. Unausgegorene
Mädchenfantasien! Was kann nicht alles passieren, in jedem beliebigen Moment:
Du hast ein Kind auf dem Arm, stolperst und stürzt - das war es dann. So
simpel.
Antwort: Da
übersiehst du etwas! Ich habe einmal im Fernsehen einen Bericht gesehen über
Versuche, die mit Sterbenden angestellt wurden. Menschen, die im Sterben
lagen, wurden auf sehr empfindliche Waagen gelegt. Und dann wurden alle
möglichen Experimente gemacht. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Körpermasse
infolge von Agonie und Tod um durchschnittlich fünf Gramm erleichtert. Oder
waren es zehn, ich kann es nicht mehr sagen. Beim einen mehr, beim anderen
weniger. Das Gewicht eines Menschen in Reinform, abzüglich des Körpers. Du
kannst es nennen, wie du willst: Seele, Quintessenz, Blütenstaub. Diese paar
Gramm verschwinden ja nicht einfach, sie sind noch irgendwo. Und rechnest du
das Ganze hoch auf Milliarden von Menschen - oder wie viele haben über
Zehntausende, Hunderttausende von Jahren den Sonnenuntergang geschaut: wohl
eher Quadrillionen? Das sind doch Berge, die auf unseren Schultern lasten.
Nicht der Luftdruck der Atmosphäre, wie man uns einreden will, nein, es ist all
das, was unseren Vorfahren widerfuhr, nur so ist die Last zu erklären. Seeleute
pflegen den Aberglauben, die Seelen der Verstorbenen siedelten in Möwen um,
aber das ist nicht wahr. Wir sind derselbe Zweig, nur ein Jahr später. Und die
Seele deines U-Boot-Vaters steckt in keiner Möwe. Sie ist in dir. Du bist zum
Beispiel wasserscheu, und jeder
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