Schischkin, Michail
Kirschkerne, der Kefir auf deinem sonnenverbrannten
Rücken, das Pflaster an meinem Bauch, das nicht wieder abgehen wollte. Oder
denke an den Abend am Ufer der Kljasma, als wir das Pferd unter dem Apfelbaum
stehen sahen, wie es das Maul nach einem Apfel streckte, und eine aufziehende Wolke
änderte die Farbe seines Fells. Oder wie du mir abends im Bett etwas Lauschiges
vorlasest aus alten Mythen: die Geschichte, bei der am Anfang alle umgebracht
wurden mit Ausnahme eines Knaben, den eine Wölfin vorm Tod bewahrt und säugt,
später wird sie seine Frau und schenkt ihm sieben Söhne. Beim Lesen wickelst du
dir eine Strähne meines Haars um den Finger. »Damit ich dir im Schlaf nicht
weglaufe?«, flüstere ich und bin schon fast eingeschlafen. Du nickst und liest
noch etwas vor über eine Gottheit, die aus der Achselhöhle einer anderen
Gottheit geboren wird. Na, diese neugeborene Gottheit bin doch ich! Liege
eingerollt und angeschmiegt unter deiner Achsel, als käme ich aus ihr, aus dir,
gerade geboren. Und im Halbschlaf höre ich noch, wie jemand von einer ins
Gesicht geflogenen Taube schwanger wird.
Frage: Sag mal,
wohin bist du damals im Schlaf eigentlich geschwommen - ein Arm voraus unters
Kissen, der andere nach hinten, Handfläche nach oben?
Antwort: Zu dir
natürlich! Was dachtest denn du? Meine größte Angst war, dass das alles zu Ende
gehen könnte. Irgendwo hatte ich von einem »Wegdenk«-Spiel gelesen. Traf also
Vorkehrungen: bloß keine Anhänglichkeit! Desto schmerzärmer lebt man.
Gegengift gesucht! Sich entspannen, etwas Zeit vergehen lassen, die Augen
schließen - der erste Schritt zur Selbstheilung. Sich einen Gegenstand aus der
Umgebung vorstellen: leeres Glas an der Tischkante. (Mama trank immer
irgendwelche Medizin, Lippenspuren am Glasrand.) Das Glas ist vom Tisch
gefallen und zerschellt. Bringt Glück. Im Schrank: das Fotoalbum mit meinen
Kinderbildern. Lässt sich wegschmeißen. Notfalls verbrennen. Die große Bratpfanne
hernehmen, auf den Herd stellen, jedes einzeln darin abfackeln. Neben dem
Spiegel auf der schönen Untertasse, Erbstück von der Großmutter: alle meine
Ringe und Ohrstecker. Kommt ein Dieb vorbei, und das Tellerchen ist leer. Kein
Problem. Bleibst du wenigstens nicht mehr an dem Häkchen hängen und verletzt
dich. Das Paar Skier: aus Platzmangel auf dem Klo, wo soll ich sie sonst
hinstellen? Wie ich am Ende des Sommers von der Datscha zurückkomme, haben
Insekten (Skibohrer! Was es nicht alles gibt) sie zernagt. Die Skistöcke kann
man den Nachbarskindern schenken, die nehmen ein paar Decken her und errichten
Wigwams. Hier, sieh mein Bein, gegen die Wand gestemmt: Zehen krümmen, Zehen
spreizen, das ist, als wollte der Fuß den Tapeten den Rücken kraulen. Ich gerate
unter die Straßenbahn, das Bein wird amputiert, ich hopse auf Krücken herum,
bis die Prothese fertig ist, dann kann ich wieder gehen, in Hosen merkt keiner
was; käme aber auch ohne das Bein ganz gut klar. Oder nehmen wir meine Mama,
lieb und gut und nicht gescheit. Das Leben, vom dem sie träumte, ist ihr nicht
geglückt, und sie meinte, dieses Leben könne nur der Rohentwurf für meines
gewesen sein, nun schriebe ich es neu und ins Reine: Hochzeit, wie es sich
gehört, Familie, Kind vom liebenden und geliebten Mann, alles, wie es sein
soll. Eine meiner frühesten Erinnerungen: Mama bereitet sich ein heißes Bad,
gießt Wasser in die Wanne, kochend heiß, nein, überhaupt kochend, mehrere
Töpfe und Kessel direkt vom Herd, gießt es in die Wanne, in der schon heißes
Wasser ist, streut Senfpulver hinein und lässt sich unter Winseln und Wehklagen
darin nieder. Kam sie nachher wieder heraus, war sie hochrot, wie abgebrüht.
Einmal während eines solchen Wannenbades verbrühte sie mich versehentlich.
Wie Mama mir erzählte, seien ihre Gefühle, wenn sie wieder einmal schwanger war
und abtrieb, gemischt gewesen: Mitleid mit dem Ungeborenen einerseits,
andererseits - man höre und staune - die Befriedigung, eine vollwertige Frau zu
sein. Umgekehrt wäre sie sich, nicht schwanger, vorgekommen, als stimmte etwas
nicht mit ihr, als wäre sie unfähig, Kinder zur Welt zu bringen, ein
Minderwertigkeitsgefühl. Schwanger zu sein bedeutete, dass alles gut und in
Ordnung war. Beim nächsten Mal konnte sie ja dann einmal Ernst machen und das
Kind austragen... Nun stelle ich mir vor, dass meine Mutter stirbt. Früher oder
später wird es dazu kommen. Bei dem Gedanken schnürt sich in meiner Brust, da
wo das Herz ist, alles
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