Schischkin, Michail
krepieren. Ich
gruselte mich davor, dich zu verlieren - und musste immerzu an die anderen
denken, die nach mir kommen würden. Wer waren sie? Konnte denn eine mehr lieben
als ich? Eifersucht und Neid zerfraßen mich bei der Vorstellung, dass sie an
meiner Stelle sein würden. In deinen Armen liegen wie ich. Dich küssen wie ich.
Dich überall anfassen wie ich. Aber dann kam mir ein simpler Gedanke: Die
werden mich ja nur imitieren. Deine Liebe zu mir wird wie ein Schnittmuster für
sie sein. Du wirst in jeder von ihnen nur mich lieben. Als mir das klar war,
hörte die Eifersucht auf, die anderen rückten mir gewissermaßen näher. Waren
gewissermaßen ich selbst. Auch sie röchen am anderen Morgen nach dir. Also
wären sie gar nicht sehr anders, wären ein bisschen ich selbst. Als hätten wir
zwei uns gar nicht getrennt, begegneten uns wieder und wieder.
Frage: Dieses
Notizbuch habe ich tatsächlich irgendwann verloren. Ich dachte, die Welt geht
unter - was da alles Wichtiges drinstand. Dabei war es wohl nur Unwichtiges.
Die Worte sind dahin, aber deine Haare auf meinem Kissen habe ich. Gerade
wickele ich sie mir um den Finger, siehst du.
Antwort: Einmal,
als Mama schon sehr krank war, sprach ich mit ihr über meinen Vater und die
anderen Männer. Liebe, die plötzlich aufhöre, sei keine gewesen, behauptete
sie, und wen man richtig geliebt, den liebe man auch später noch in den vielen
anderen mit. Ach, könnte ich sie alle noch einmal zusammenrufen!, sagte sie.
Ich würde sie alle miteinander an mein Herz drücken! An meinen Tisch setzen und
etwas Leckeres für sie kochen, wie eine Mutter! Eine Strecke zwischen den
Punkten A und B lege man in Kilometern zurück, fuhr sie fort, das Leben
hingegen in Menschen, man nehme sie unweigerlich in sich auf; die, die du
einmal geliebt, kommen dir nie mehr abhanden, sie wohnen in dir, sie sind das,
woraus du bestehst, sagte sie. An ihnen entlang verläuft das Leben. Damals nach
jenem Sommer an der Rigaer Bucht schien es mir das Allerwichtigste, nicht nach
meiner Mutter zu kommen, in allem wollte ich mich von ihr unterscheiden. Und
ertappte mich doch manches Mal bei dem Gedanken, dass ich alles, was sie fühlt
und denkt, nachfühlen und verstehen kann. Du und ich, wir haben einander
geliebt, und mir geht durch den Kopf, Mama könnte meinen Vater genauso geliebt
haben, als ich mich schon an der Schwelle zu dieser Welt befand. Und ich umarme
dich, fahre mit den Fingern über die Wirbel auf deinem Rücken, klammere meine
Beine um dich, genau so wie es meine Mutter einst mit meinem Vater getan. Und
empfinde dabei dasselbe wie sie. In dem Moment sind wir plötzlich eins
miteinander, wie verschmolzen. Du hast sogar genau das gleiche Muttermal unter
dem Schulterblatt wie mein Vater. Sie habe ihr Leben lang den einen
wiederzufinden versucht, der ihre erste Liebe war, sagt Mama. Ob der wohl auch
ein Muttermal unter dem Schulterblatt hatte?
Frage: Kann sein,
die halbe Menschheit hat da ein Muttermal. Es hat nur noch keiner nachgeschaut.
Antwort: Aber sag,
hattest du schon irgendwann einmal das Gefühl, dein Vater zu sein?
Frage: Nein, nie.
Oder einmal vielleicht doch. Das war kurz nach seinem Tod. Ich saß im Zug, es
war Winter, spätnachts. Im Wagen war es stickig, ich konnte nicht schlafen und
wollte hinaus auf die Plattform zwischen den Waggons, um Luft zu schnappen. Ich
drängte mich also ans andere Ende des Liegewagens: überall Füße, Arme,
Schnarchen, Stöhnen im Schlaf, Mief und Gestank. Der Gang war schmal, der Wagen
schaukelte, ich fasste nach den Haltegriffen, die waren kalt und fühlten sich
schweißig an. Schließlich kam ich hinaus ins Zwischenabteil, wo alles dick
vereist war, die Tür zum nächsten Wagen ließ sich nicht öffnen, dazu ein Höllenlärm,
rüttelnde Puffer, schabendes Blech. Und das in völliger Finsternis, es gab
keine Beleuchtung. Da fuhr in mich auf einmal eine solche Kälte, eine solche
Trauer befiel mich! Und für einen langen Augenblick kam mir der dröhnende
Waggon wie ein Unterseeboot vor und ich darin wie mein Vater. Das war der
Moment, wo wir eins waren. Die Zeit und alles andere zerbröselten zu nichts.
Ich war mein Vater. Das U-Boot schlingerte, als wären ringsum Wasserbomben am
Explodieren. Ich machte, dass ich rauskam, zurück in meinen stickigen,
stinkenden Wagen. Auf dem Rückweg kam der Schaffner in dem schmalen Gang auf
mich zu, bewaffnet mit einem Beil. Mich durchfuhr es heiß und kalt, doch er war
auf dem Weg zur Toilette, um sie
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