Schischkin, Michail
verstehen, dass das alles gar nicht sein kann?
Antwort: Was? Wieso
nicht?
Frage: Weil man
dich gelehrt hat, längs zu ritzen statt quer!
Antwort: Da stand
so eine Alte auf der Straße, krumm und nicht mehr alle Tassen im Schrank,
zischte jeden an, der vorüberkam: Du stirbst auch bald! Ich wollte
vorbeihuschen, entkommen, unsichtbar sein. In ihrem Alter müsste sie doch
wissen: Die Welt ist so eingerichtet, dass man darin nicht abhandenkommen kann.
Bist du hier von der Bildfläche verschwunden, heißt das, du bist anderswo
aufgetaucht - in irgendeiner Einraumzelle für Alleinstehende, in der heißen,
feuchten Falte von irgendwem, im eigenen Leben vor vielen Jahren. Von der
Bildfläche zu verschwinden heißt, kopfüber unterzutauchen, gleich taucht man
irgendwo wieder auf. Nicht mehr da zu sein ginge sowieso über den Horizont
eines Menschen. Dafür ist kein Sinnesorgan geschaffen. Dass meine Mama
plötzlich nicht mehr da war, hat sie weder begriffen noch überhaupt erfahren.
Sie starb im Schlaf, schlief ein und wachte nicht wieder auf. Schläft demnach
immer noch. Und genauso wenig werde ich eines Tages mitkriegen, geschweige
kapieren, dass ich weg bin. Einfach zu verschwinden steht uns nicht frei. Du
kehrst wieder in mir. Ich kehre wieder in dir. So sind wir nur frei, an
jeglichem Ort, zu jeglicher Zeit wiederzuerscheinen. Und die süßeste aller Freiheiten
ist die, dahin wiederzukehren, wo man einmal glücklich war. Zurückzukehren in
einen Augenblick, der die Rückkehr lohnt. Ich blättere in meinem Leben und
suche nach Anwandlungen von Glück. Da, wo ich einmal vor Liebe fast erstickte,
kann ich bleiben und das Buch zuschlagen.
Frage: Wirst du
zurückkommen zu mir?
Antwort: Nein.
Frage: Aber wieso
denn nicht? Du bist es doch schon. Ich umarme dich, atme den Geruch deines
Kopfes ein. Und hier dein Atem, er geht ein wenig schnaufend, du schlummerst in
meiner Achselhöhle. Hier fühle ich mit den Fingerkuppen die Sehnen der
Froschhäutchen an deiner Brust. Hier hast du dir den Bauch gekratzt, wo das
Pflaster war. Hier wickle ich dein Haar um meinen Finger, damit du mir im
Traum nicht wegläufst.
Antwort: Nein.
Frage: Warum
nicht?
Antwort: Weil ich
gerade ganz woanders bin. Ein Strand: Ostseeküste, flach, ziemlich leer. Ich
sitze im Sand, genau auf dem Saum des Meeres, das noch kalt und steif daliegt.
Es plätschert nur wenig, funkelt kaum in der Sonne. Vor mir die Schreie der
Möwen, hinter mir die Schläge gegen den Ball - da wird Volleyball gespielt.
Jemand geht vorbei, starrt in den ans Ufer geworfenen Tang, ein
Bernsteinsucher. Unter seinen Sandalen knacken Muscheln. Ich weiß, jetzt kommen
drei schlappe, mickrige Wellen. Und dann die vierte, die die meine ist. Schon
sammelt sie sich, bäumt sich auf und reckt sich, greift nach meinem Fuß, nimmt
die Zehen in den Mund, kitzelt die Ferse mit Sand.
25. Juli
1926
Heute sah
ich im Printemps dieses Heft mit der wunderschönen Prägung auf dem Umschlag und
musste es kaufen. Ich werde wieder ein Tagebuch führen. Wobei ich mir
Begeisterungsstürme über die Seine, Notre-Dame, die Museen, den Eiffelturm und
das Übrige hier nach Möglichkeit verkneifen will. Aber diese ganzen Ahs und Ohs
sind nach vierzehn Tagen Paris sowieso versiegt.
Vielmehr
will ich das Heft dazu verwenden, Gefühle festzuhalten. Gefühle, die so
niemand außer mir empfindet, je empfunden hat oder empfinden wird! Denn was da
gerade in mir vorgeht, gehört mir. Mir ganz allein! Ich merkte auf einmal, dass
mir mein früheres Ich abhandenkommt, fadenscheinig wird, während ein anderes
Leben mich allmählich durchdringt. Da ist jetzt noch jemand,
dem mein Körper gehört. Ich bin nicht mehr für mich allein.
Manchmal
kommt es mir so vor, als wäre ein Akt meines Lebens abrupt und still, ganz ohne
Beifall zu Ende gegangen. Ein dicker, schwerer Vorhang fiel und trennte mich
von allem Früheren wie auch von der Gegenwart, die auf einmal vollgestopft
wirkt mit lauter überflüssigem Zeug. Das Wichtigste und Kostbarste aber, das
es geben kann, befindet sich in mir. Noch keiner außer Iossif und mir weiß
davon. Alle jagen sie irgendwelchen Bagatellen hinterher. Ich trage mein
Pünktchen in mir. Iossif hat es so getauft, als wir darüber rätselten, was es
wohl sein mag, das sich da tief in mir verbirgt, Junge oder Mädchen. Pünktchen
also. Es hat mich, meinen Körper schon im Griff. Alle meine Wünsche, Launen,
Schrullen und Capricen gehören nicht mehr zu mir. Aus meinem Körper spricht
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