Schischkin, Michail
erzählen. Das war,
als die kleine Tanja, das Kind, das du mit Jelena Olegowna hattest, meine
Stiefschwester, an Typhus starb.
Auch ich
habe damals für sie gebetet, oder besser gesagt: für dich. Zwei Tage darauf war
sie tot. Armer Papa! Von hier aus kann ich so gar nichts für dich tun.
Höchstens einen Brief schreiben und an dich denken, an früher.
Erinnerungen
sind wie Inselchen in einem Meer von Ödnis. Auf diesen Inseln sind sie alle zu
Hause, meine Verwandten und teuren Freunde, sie leben dort, wie sie immer
gelebt haben. Auf einer von ihnen steht Papa im Halbdunkel und bekreuzigt sich
verstohlen. Mama färbt ihr Haar mit Henna. Meine Nina Nikolajewna spaziert mit
ihrem altmodischen Hut herum. Ich wollte sie treffen letztens in Rostow, aber
sie war schon gestorben. Und an ihr Grab habe ich es nicht geschafft.
Einmal in
den ersten Tagen der Revolution traf ich sie auf der Straße. »Alles Gute, Nina
Nikolajewna!«, schmetterte ich ihr entgegen. »Alles Gute, wozu?«, fragte sie
verwundert zurück. »Na, zur Revolution! Und zum Frühlingsanfang!« - »Mein liebes
Mädchen! Die Revolution ist wahrlich kein Grund zum Feiern, und Frühlingsanfang
ist nicht, wenn er im Kalender steht, sondern wenn ich meinen Federhut gegen
den Strohhut eintausche!«
Gott hab
sie selig!
Heute ging
ich auf der Ile de la Cite spazieren und entdeckte eine Gedenktafel für
Abaelard und Heloisa. Da musste ich an Sabugski denken. Mein Rostower Abaelard
starb im Dezember 1919 an Typhus.
Ich
gedachte jener schrecklichen Zeit des Kriegs, der Seuche. Wie viel Schmerz in
der Welt war und wie viel doch auch Wärme und Licht! Zum Beispiel das
Weihnachtsfest 1919. Alles floh aus Rostow. Papa hatte für Mama und uns
Zugplätze ergattert. Wir brachten fünf Tage auf den Gleisen vor der Stadt zu,
wurden ewig herumrangiert, doch man traute sich kaum, den Zug zu verlassen, um
etwas zu essen zu kaufen - nicht dass er plötzlich ohne dich losfuhr. Dabei gab
es ein ständiges Kommen und Gehen, Leute sprangen mitsamt Gepäck aus dem Zug,
um zu irgendeinem anderen hinüberzuhetzen, kamen wieder und erzählten, was sie
gehört und gesehen hatten: Es seien angeblich Leute auf dem Bahnhof erhängt
worden. Dann hieß es, die Lokführer sabotierten die Abfahrt, und tatsächlich:
Nachdem für sie gesammelt worden war, fuhren wir endlich los. Die Luft im
Waggon war verpestet - ein Kind hatte sich den Magen verdorben. Aber ach!,
nach einer Fahrt im umgebauten Güterwaggon komme einem die dritte Klasse
paradiesisch vor, meinte jemand einen Trost anbringen zu müssen. Sitzbänke,
immerhin! Eine Frau kreischte unentwegt: »Sascha!« - das war ihr Mann - »mich
hat ein Floh gebissen!« Und fing an, sich aufzuknöpfen, ihr halbwüchsiger Sohn
musste eine Decke vorhalten, und der Mann suchte eine Ewigkeit nach dem Biss,
um ihn mit Spiritus einzureiben. Eine Französin wiederum, deren Mann, ein
russischer Oberst, verwundet war, rieb ihren Säugling mit Naphthalin ein, um
ihn vor den Insekten zu schützen, woraufhin das Kind zu schreien anfing und die
Mutter völlig den Kopf verlor, in höchster Verzweiflung schüttelte sie das
Kind, damit es aufhörte, fluchte auf Russland und die Russen, es war ein
wahrer Albtraum. Alle schienen außer Rand und Band, kurz davor, mit Fäusten
aufeinander loszugehen. Und dabei war es Heiligabend. Bis eine Frau auf die
Idee kam, den Kindern einen Weihnachtsbaum ins Abteil zu zaubern - inmitten von
Lärm, Gestank und Hysterie. Sie fand einen Zweig - keinen Tannenzweig,
irgendeinen anderen -, stellte ihn in eine leere Flasche. Jemand wand ein
grünes Tuch darum. Papierschnipsel dienten als Schmuck, auf den Zweig kamen
Wattefetzen. Weihnachtskerzen waren keine vorhanden, so kaufte man dem
Stellwärter eine dicke Signallaternenkerze ab. Auch ein paar Äpfel fanden sich,
die in dünne Scheiben geschnitten und angehängt wurden. Ein Weihnachtsbaum in
der Eisenbahn! Die Kinder strömten zusammen, auch die Erwachsenen drängten
sich. Ich sang mit den Kindern. Alle Gesichter waren wie verwandelt: vorher
müde, überspannt, feindselig - jetzt freudig und festlich gestimmt! Von einem
kleinen Jungen bekam ich hinterher einen Kuss und einen Knopf geschenkt, sein
Heiligtum.
Wo mag
dieser Knopf jetzt sein? Und wo diese bewundernswerte Frau? Was ist aus den Kindern
geworden?
Wie gerne
man sich in Menschen mitunter einmal irrt! Unsere Vermieterin gefiel mir
anfangs überhaupt nicht. Wie sie gleich am ersten Tag betonte, dass Sofa und
Sessel mit
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