Schischkin, Michail
Aktion muss selbstverständlich kurz
vor Ausbruch eines Krieges erfolgen - damit es auch wirklich alle angeht. Und
Daphnis opfert sich: Beim Verlassen des Fahrstuhls urplötzlich im Epizentrum
des Weltgeschehens stehend, vereitelt er das Attentat auf den englischen
Gesandten und rettet Tausende Leben vor den Schlachtfeldern eines überflüssigen
Krieges! Ein liebendes Herz ist stärker als jedes gutbösartige Imperium! Oder
wenigstens könnte er seine Haut zu retten versuchen, was nicht weniger
menschlich ist. Dort, im Winterland, kann Daphnis seine Chloe sitzen lassen
und über alle Berge fliehen, sich hinter den Kartons auf dem Tieflader verkriechen,
Schlaftabletten schlucken, zwei Plastikflaschen im Arm, eine zum Trinken und
eine zum Pissen, dort geht das, aber hier im Mlywo muss er nach
Ich-weiß-nicht-wo gehen und das Ich-weiß-nicht-was finden, um den Tod zu
zwingen, und das bis Freitag. Und das wird er, keine Bange! Aber noch etwas
spielt eine Rolle: Welcher Held ließe sich vorstellen ohne eine genaue
Beschreibung seines Äußeren? Dieser Hirtenjunge und sein Hirtenmädchen sind
doch so leicht mit anderen Hirtenkindern zu verwechseln! Personen müssen aufs
Tapet, die man im Kopf behält - nicht wie auf einer Winterland-Cocktailparty,
wo einem fünfzehn Leute auf einmal vorgestellt werden, und hinterher kann man
sich an keinen Namen und keine Nase erinnern! Mit Daphnis' Äußerem haben wir
kein Problem, da genügt es, wenn Sie mich anschauen - aber Chloe, wie soll ich
sie beschreiben? Am besten so: Vergegenwärtigen Sie sich das Porträt einer
jungen Frau des florentinischen Malers Lorenzo di Credi (1459/60-1537), Öl auf
Holz, im Metropolitan Museum - man nimmt nicht die Haupttreppe, sondern die
nächste, geht durch das Mittelalter ganz durch und dann nicht auf Tizian zu,
sondern gleich links ab, da hängt es neben der Tür zur ersten Etage, aber
aufpassen, man übersieht es leicht und geht dran vorbei. Das ist ihr genaues
Abbild. Sie ist im Halbprofil dargestellt, trägt ein schwarzes Kleid und hält
einen Ring zwischen den Fingern, der anscheinend noch eine wichtige Rolle
spielen wird, da er in dieser Geschichte schon zum zweiten Mal auftaucht. Und
noch eins ist wichtig: Bei dieser Fülle von handelnden Personen sollte man von
Anfang an zu verstehen geben, wer die Hauptrolle spielt, damit erst gar kein
Durcheinander entsteht und jemand denkt, es ginge um das Wort. Hier haben wir
Chloe. Nicht bloß eine, die sagt, man dürfe das Böse nicht in sich festhalten,
denn davon bekomme man Krebs, also müsse man sich seiner entledigen, es
weitergeben. Nicht bloß eine, die in den Sumpf stieg, Binsen pflückte, sich
einen Grillenkäfig flocht und über dieser Arbeit ihre Schafe vergaß. Nein! Es
ist die, deren Brustwarzen abstanden wie zwei Stachelbeerchen, die, die im Café
heimlich Schmutz von den Fingernagelrändern gepult und dem Speiseeis
beigegeben. Sie war es, die gerufen hatte, sie habe keinen Verstand, aber eine
Gebärmutter und wünsche daher in Liebe ein Kind zu gebären. Oder nein, das wird
sie erst noch rufen, später, wenn sie sich eine andere Geschichte über die
Faust stülpt, vorerst spricht Chloe so: An Gott glauben nur die, die im Morgen
leben, ich aber lebe ganz im Heute. Ich bereue nicht im Geringsten, diesen Weg
gewählt zu haben - er hat mich frei und stark gemacht. Und das Mlywo bewirkt an
Chloe wahre Wunder! Ist sie im Winterland nicht eben schön, so hier noch viel
hässlicher, ihr Hass ingrimmiger, ihre Liebe leidenschaftlicher. Ist sie dort
schon zu nichts nütze, so hier erst recht, und will desto mehr geliebt sein,
und die Einsamkeit bei Nacht ist im Mlywo noch unerträglicher als im Winter.
Und sie ist vor niemandem verpflichtet, eine Idealfigur abzugeben - makellose
Handschuhe langweilen nur. Im Friseurladen mit den Köpfen reicher Tussis
beschäftigt, könnte sie einen Groll auf das Leben hegen und meinen, sie zartes
Eintagsküken wüsste das Geld doch viel besser zu gebrauchen als diese alten
Schachteln. Ist das Objekt der Missgunst jung und schön, wird der Unmut davon
nicht geringer, im Gegenteil. Und wer könnte die arme Chloe im Grunde seiner
Seele nicht verstehen? Einmal, als sie ihre Kundin für einen Moment allein
lässt und an dem teuren Pelzmantel auf dem Bügel am Haken vorbeikommt, zieht
sie kurz und unauffällig die Klinge des Rasiermessers darüber hin. Keiner
kommt darauf, sie auch nur zu verdächtigen. Und all diese Bahnhofsgeschichten!
Sie genoss geradezu ihre selbst
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