Schischkin, Michail
man sieht sie nie wieder. Ein Tischtennisball findet sich an. Der Wind
weht ihn gleich in die Brennnesseln. Was starrst du? Geh und hol ihn! Er geht
hin, saugt geräuschvoll Luft ein, die Nesseln brennen. Peitscht mit dem Schläger
auf das fiese Grünzeug ein. Schiebt den Ball in die Hosentasche, und sie gehen
zum Fluss. Vom knarrenden, morschen Steg spucken sie, über das regenfeuchte
Geländer gebeugt, ins brackige Wasser der Kljasma. Im Sonnenkegel darüber ist
ein geballter Mückenschwarm zu sehen. Spucken sie gleichzeitig, bildet sich auf
dem Wasser eine auseinanderlaufende Acht. Ins Geländer sind Namen geschnitzt,
die mit dem Holz vor sich hin gammeln. Er will das Messer hervorholen, dabei
springt ihm der Tischtennisball aus der Tasche, stippt gegen den Balken und
klatscht aufs Wasser - genau in Chloes Spiegelbild, da, wo das weiße Höschen
schimmert. Aber das ist nicht Daphnis. Daphnis ist der, der nicht einschlafen
kann und zusieht, wie die Mutter sich im Dunkeln entkleidet, den Unterrock
auszieht, der dabei blaue Funken schlägt. Seine Freunde und er haben sich eine
eigene Waffe ausgedacht: ein Stehaufmännchen hergenommen, ins schwere Ende
einen Nagel eingeschlagen, den Nagelkopf abgesägt, den Schaft spitz gefeilt. In
den Hohlkopf des Männchens kam ein kreuzförmiger Schnitt, dahinein steckten
sie Pappstreifen als Leitwerk. Schleudert man dieses Gerät wie einen Stein,
schlägt der Nagel auf zehn Schritt Entfernung glatt durch ein Brett. Die
Großmutter flickt die Löcher in seinen Hosen und brummt, heutzutage könne
keiner mehr den Hals voll genug kriegen, dagegen seinerzeit im Lager... Dort
war sie nach der Entlassung freiwillig als Feldscherin geblieben. Es gab in
der Nähe ein Kinderheim, aus dem die Kinder ständig zu ihnen in die Zone
gelaufen kamen, um zu betteln, etwas zu essen oder Kleider; aus Mitleid hat
sie den Toten die Jacken ausgezogen und den Kindern gegeben. Einmal ist er mit
seiner Klasse im Museum gewesen, da gibt es ein Bild: Der letzte
Tag von Pompeji, auf dem man die Leute kurz vor ihrem Tod sehen
kann, wenige Minuten noch, dann sterben sie. Übers Jahr sind sie noch mal da
gewesen, und die Todgeweihten auf dem Bild haben immer noch ihr letztes
Stündlein gefristet. Alljährlich am ersten September gibt es eine rituelle
Prügelei zwischen den Schulen - mal siegen die Orotschen, mal die Tungusen. An
Feiertagen gehen alle zum festlichen Schamanenritual. Der Oberschamane der
Region steht auf der Tribüne vor dem Denkmal in der zentralen Grünanlage. Das Denkmal
besteht aus einer Figurengruppe aus Granit: der Held, der von ihm gerettete
Kommandeur und ein Pferd. Jemand hat bei irgendeiner Gelegenheit einmal einen
Kommandeur gerettet, hat ihn auf seinem Rücken vom Schlachtfeld getragen, dann
schlugen sich die beiden zu den eigenen Leuten durch, zwei Tage ohne Wasser,
bis der Held irgendwo ein paar Schlucke für den Kommandeur besorgen konnte;
selbst trank er Pferdepisse. Nach der Seance spricht der Schamane, immer noch
schwer atmend, die Schellentrommel wie einen Fächer wedelnd, ins Mikrofon: Alle
seid ihr auf der Suche nach etwas. Und dann zeigt sich: Es braucht nicht mehr
als ein bisschen Winter, um glücklich zu sein. - Von einer Nachbarin erfährt
der Junge vom Mlywo. Ihre Brillengläser sind so dick, dass es aussieht, als
wären die Augen hineingeschliffen, und wenn sie die Brille abnähme, dann die
Augen gleich mit. Daphnis zu ihr: Mlywo, das gibt es doch gar nicht. Das ist
doch alles Winterland. Darauf sie: Doch, doch, man kann es nur von hier nicht
sehen. Alles Entlegene scheint nicht zu existieren, Gott zum Beispiel oder das
Huhn, dessen Federn bis zur Hühnerauferstehung in deinem Kopfkissen stecken,
oder meinetwegen irgendwelche Feuerländer. Sie sind einfach nur sehr weit weg.
Da braucht es schon eine Beagle, um
hinzugelangen. Hier, lies mal! - Die Mutter hat sich müde von der Arbeit nach
Hause geschleppt, wäscht sich die Hände, die blau sind vom Blech der Konserven,
die sie geöffnet hat; sie verdient als Reinigungskraft in einer Sonntagsschule
der Kirche dazu, und wenn dort humanitäre Hilfe eingeht, werden die Büchsen vor
der Verteilung geöffnet, andernfalls würden sie weiterverkauft und das Geld
versoffen. Der Sohn pubertiert in einer Einzimmerwohnung mit ihr, es gibt kein
Intimleben. Nebenan baut ihr Betrieb gerade Hochhäuser. Sie hat sich in die
Warteliste eingetragen; nichts bewegt sich. Also hat sie den Jungen ins
Ferienlager geschickt und sich entschlossen.
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