Schischkin, Michail
hinter meinem Rücken ins Schloss. Der
ganze Hof war weiß, es schneite immer noch. Eine frische, weiße Morgenhaut.
Jemand versuchte mit einer gelben Kehrschaufel sein Auto auszugraben, das sich
in einen Schneehaufen verwandelt hatte. Wegen der Verwehungen fuhr keine
Straßenbahn. Im Gänsemarsch strebten die Menschen schräg über die Brache zur
Metrostation - es gab schon einen Trampelpfad. Der Schnee deckte alles zu: den
Spielplatz, die Mülltonnen. Und gleich darauf schneite es so sehr, dass die
Straße dem Blick ganz entschwand. Alles weiß. Alles stumm. Winter.
Ich werde
ins Bilinskaja-Gymnasium eingeschult, das sich im Chachladshew-Haus am
Taganroger Prospekt befindet. Das Haus steht bis heute, ein Schuhgeschäft, das
alle Rostower kennen.
Zur
Aufnahmeprüfung, während ich vor dem Priester das Vaterunser herunterrattere,
mache ich vor Aufregung einen Knicks statt der gebotenen tiefen Verbeugung.
Eigentlich
fängt das Gymnasium im Schreibwarenladen von Iossif Pokorny auf der Sadowaja
an. Es genügt zu sagen: »Bilinskaja, Klasse 1«, und schon wird eine Tüte für
mich gefüllt mit sämtlichen Lehrbüchern, dazu Hefte, Farben, Pinsel in den
geforderten Größen, Radiergummi, Federn und Federkästchen. Um vorzuführen, wie
weich die Eichhörnchenschweifhaare sind, fährt der Verkäufer mir mit dem Pinsel
über den Wangenknochen.
Morgens
werde ich von Mama gekämmt, sie flicht mir die Zöpfe so straff, dass es die
Gesichtshaut nach hinten zieht und ich den Mund nicht mehr zukriege, die Augen
werden zu Schlitzen wie bei einem Chinesen. Bevor wir, meine Schwestern und
ich, uns auf den Schulweg machen, verteilt Mama Küsschen, ordnet die Bänder an
den Schürzen, steckt jeder von uns fünfzehn Kopeken fürs Mittagbrot zu. Das
Geld geben wir schon unterwegs für Süßigkeiten aus, Lutschbonbons oder ein
Stück Halwa vom Straßenhändler, die postieren sich extra in der Nähe der
Schule.
Hinter der
Schultür steht der Pförtner in betresster Uniform. Der alte Mann ist für die
Annahme und Ausgabe der Lehrermäntel zuständig sowie für das Klingelzeichen am
Stundenanfang und -ende, die Zeit liest er von der großen Standuhr im Vestibül
ab. Wenn er nichts zu tun hat, sitzt er in seinem Eckchen mit einem Buch in der
Hand - man sagt über ihn, er sei Tolstoianer, esse kein Fleisch und habe nach
der Lektüre des Leinwandmessers seine Knochen
dem Anatomiekabinett des Gymnasiums vermacht.
Zu spät
kommen sollte man nicht - Punkt halb neun wird die Garderobe abgeschlossen, und
mit Mantel darf man sich im Klassenraum nicht sehen lassen. Ich kann mich
sogar noch an die Nummer meines Garderobenhakens erinnern: 134. Dieselbe stand
auch auf dem himbeerroten Samtfutter der Gummiüberschuhe.
Aber wozu
weiß ich sie eigentlich noch? Wen könnte die Nummer eines nicht mehr
vorhandenen Hakens in einer nicht mehr vorhandenen Garderobe interessieren? Nie
mehr werde ich meinen abgetragenen, von den Schwestern übernommenen Mantel an
diesen Haken hängen. Nie mehr im Winter nach Schulschluss in die Garderobe
hinunterlaufen, in die verhassten dicken Hosen steigen und sie unter das
Schulkleid zerren, die Kapuzenbänder zubinden, bevor ich nach Hause gehe. Nach
Hause, wo ist das! Nichts von dem, was mich damals anging, ist mehr da. Nichts
und niemand.
Oder
vielleicht doch. Ich hab sie jedenfalls vor Augen, die Aula im ersten Stock,
wo, wenn die Sonne hereinscheint, die Fensterumrisse sich so wunderlich über
das Parkett schlängeln. Der Morgen beginnt stets mit allgemeinem Beten. Dann
gibt Juli Pawlowitsch Ferrari, der Musiklehrer, am Flügel die Töne vor, ein G
und ein H, für den zweistimmigen Gesang. Wir singen Himmlischer
König und Hilf Deinem Volk, 0 Jesu Christ und Gottesmutter
Jungfrau. Der liebe gute Juli Pawlowitsch! Gleich am ersten Tag
fällt ihm meine Stimme auf, er bittet mich, nach dem Unterricht noch zu
bleiben. Von nun an werde ich zu allen Gottesdiensten und Konzerten des
Gymnasiums auftreten.
Wie sich
zeigt, reicht das im Geschäft für Schulbedarf Gekaufte bei Weitem nicht aus.
Zum Glück habe ich Schwestern, die erfahren genug sind und mir beibringen,
dass eine Gymnasialschülerin, die etwas auf sich hält, nicht nur Lehrbücher und
Hefte hat, sondern auch ein Poesiealbum; dass ein rosa Löschblatt im Heft ein
Zeichen von Geschmacklosigkeit und beinahe schon Armut ist, es gehört sich,
Löschpapier in anderen Farben zu kaufen und mit Band und üppiger Schleife an
den Heften zu befestigen. So nehme ich mir
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