Schischkin, Michail
die
Vögel fliegen in alle Winde, und am Ende frisst sie auch irgendwer?
Vater
Konstantin verschlägt es für einen Moment die Sprache, dann antwortet er:
»Angenommen, ein Schuster näht einen Stiefel, und dann nimmt er ihn wieder
auseinander und lässt den einen Teil in Afrika fallen, den anderen in Amerika,
den dritten in Asien oder am Nordpol, und dann sammelt er die Teile wieder ein,
so wird er keine Mühe haben, sie zusammenzusetzen und den alten Stiefel
wiederherzustellen. Und genauso wird der liebe Gott nach unserem Tod, wenn
unser Leib zu Himmel, Erde, Baum und Wasser geworden, alle Teile wieder
vereinen.«
Die Würmer
haben Vater Konstantin längst aufgefressen, die Vögel diese Würmer längst
aufgepickt, sie sind in alle Winde geflogen. Himmel, Erde, Baum und Wasser
haben diese Vögel aufgesogen. Möge Gott deiner Seele Friede schenken,
Bienenfreund!
Natalja
Pawlowna, die Anstandsdame, wird hinter ihrem Rücken respektlos Natallje
genannt. Natallje, die Kanaille! Keiner mag sie, denn sie ist böse und
nachtragend, und dann ist da noch das riesige Muttermal auf ihrer Wange. Sie
ist klein und dick, trägt, um größer zu wirken, eine turmartige Frisur und hohe
Absätze. Ihre Stimme ist allzeit scharf und schrill, so als müsste sie die
Wörter wie Nüsse knacken. Selbst ihr Lob klingt nach Schimpfen. Einmal gibt sie
uns in Vertretung für einen erkrankten Lehrer irgendeine Aufgabe; wir sind
beschäftigt, sie sitzt da und schreibt beflissen. Zwischendurch schaut Frau
Schirjajewa, die Direktorin, herein und ruft sie hinaus auf den Flur. Während
die beiden draußen hinter angelehnter Tür miteinander reden, reckt Mischka, die
in der ersten Bank direkt vor dem Lehrertisch sitzt, den Hals und liest vor,
was Natallje geschrieben hat. Es ist ein angefangener Liebesbrief: Mein
geliebter Wolodetschka! Ich möchte Dir die Füße küssen, die Füße, jawohl! Als
Natallje zurückkommt, merkt sie daran, wie still es ist, dass etwas nicht
stimmt. Sie sieht ihren Brief auf dem Tisch liegen, ergreift und knüllt ihn,
blickt erschrocken in die Klasse. In dem Moment platzt eines der Mädchen als
Erstes heraus, und schon krümmen sich alle vor Lachen. Auch ich pruste los,
weil es ein Unding ist, sich unsere Natallje vorzustellen mit ihrer puterroten
Visage, wie sie einem Wolodetschka die Füße küsst. Plötzlich löst sie sich aus
ihrer Starre, rennt zur Tür, stoppt - wahrscheinlich fällt ihr ein, dass sie
draußen noch der Direktorin in die Arme laufen könnte. Also verzieht sie sich
in eine Ecke und bricht in Tränen aus. Unsere Natallje, diese gemeine,
verhasste Person - sie heult! Leise, untröstlich. Uns bleibt das Lachen im Hals
stecken, allen ist auf einmal mehr nach Heulen zumute. Da klingelt es. Natallje
dreht sich um, ihr Gesicht ist verheult, die gesunde Wange genauso rot wie die
Versehrte. Sie schnäuzt sich ins Taschentuch und sagt, zum ersten Mal nicht im
Nussknackerton, sondern leise, beinahe flüsternd: »Geht jetzt.«
Die
Mädchen glauben, dass unser Zeichenlehrer Wladimir Steinbuch hinter
Wolodetschka steckt. Vor dessen Stunde kommt der alte Schuldiener und zieht ein
großes grünes Tuch über Wandtafel und Tisch. Herrn Steinbuch kann man schon
auf dem Korridor hören - beständig brummelt er etwas vor sich hin, flucht auf
irgendwen. Er kommt herein, nickt kurz, ohne uns anzuschauen, zieht die Falten
des Tuches glatt und stellt seine geometrischen Gipsfiguren auf das Tuch. Er
ist alt und hässlich, mit feuchter Klumpnase und wulstiger Unterlippe. Wie
jemand Lust haben könnte, diese Füße in den alten Halbstiefeln zu küssen, ist
vollkommen unerfindlich. Es heißt, er habe in seiner Jugend in Italien
studiert und als Künstler Erfolg gehabt, bevor er irgendeiner Fürstin wegen,
die ihn ewig hingehalten und dann doch weggeschickt habe, dem Suff verfallen
sei. Das haben die jüngeren Mädchen von den älteren aufgeschnappt und erzählen
es weiter. Manchmal kommt es vor, dass der Zeichenlehrer sich vergisst, mitten
im Unterricht anfängt zu knurren und die Faust gegen irgendwen draußen vor dem
Fenster zu schütteln. »Mal ihnen eine Bauernauspeitschung auf dem Kreisrevier,
dann klatschen sie Beifall... Aber die können mich mal!«, stößt er mit
gepresster Stimme hervor, und der zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckte
Daumen prallt gegen die Fensterscheibe, während die Unterlippe sich noch
weiter vorschiebt.
Deutsch
haben wir bei Eugenia Woltschanezkaja - bei uns heißt sie »Eugenie mit
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