Schischkin, Michail
langem
i«. Sie duldet nicht den kleinsten Mucks in der Klasse, nicht einmal den Bleistift
anzuspitzen ist während der Stunde erlaubt. Und mit ihrer Stimme ließe sich
Glas schneiden. Sie wird gefürchtet, nicht geliebt. Man erzählt sich über sie,
dass sie von Eltern einmal eine Bonbonniere geschenkt bekam, in die
fünfundzwanzig Rubel eingelegt waren. Der Hass auf Eugenie überträgt sich auf
die Partizipien und Artikel, auf denen sie herumreitet. Das bedrückt mich umso
mehr, als Papa, wenn es zu Hause Haferflocken der Marke Herkules zu essen gibt,
seit je den gleichen Witz reißt: Wieso Herr Kules und nicht Frau Kules? Wohl
darum hatte ich mir, bevor ich ins Gymnasium kam, das Deutsche immer als eine
lustige Sache ausgemalt.
Dafür sind
wir alle verliebt in unsere Französin, auch wenn die anderen Lehrerinnen und
unsere Anstandsdamen sie nicht ausstehen können. Marija Iossifowna Martin hebt
sich ab von den anderen, die allesamt in Dunkelblau und Schwarz herumlaufen:
Sie trägt grellfarbene Blusen, einen Rotfuchs um die Schultern und eine rote
Perücke auf dem Kopf. Im Unterricht singen wir Sur le pont
d'Avignon und tanzen dazu Reigen. Dabei hüpft sie durch den Gang
zwischen den Bänken, als wären wir tatsächlich auf der berühmten Brücke in
einem wunderbaren Ort namens Avignon, der nicht von dieser Welt ist. Einmal
bringt Marija Iossifowna ein Foto davon mit, und wir wundern uns, dass diese
Brücke - die einzige, auf der nichts anderes getan wird, als zu singen und zu
tanzen - in der Flussmitte abbricht. Nach dem Unterricht wird unsere Französin
von ihrem Verehrer abgeholt, einem Offizier, der am Schultor auf sie wartet.
Am meisten
quäle ich mich mit Arithmetik und überhaupt allen exakten Wissenschaften. Beim
Abendbrot versucht Papa mir die Rätselaufgabe von dem Mann, dem Boot, dem Wolf,
der Ziege und dem Kohlkopf zu erklären und diesen ganzen Überfahrten von Ufer
zu Ufer. Dabei sehe ich immer nur die großen Augen der Ziege vor mir, kann mir
den Wolf lebhaft vorstellen, den Kohl und den Fluss und auch den Mann, der
bestimmt schon wütend auf mich ist, denn zu Hause warten Frau und Kinderlein
seit einer Ewigkeit auf ihn...
Bald
fangen bei uns die Schwärmereien an. Briefchen hin und Briefchen her, Seufzen
und Schmachten ohne Ende, ein Mädchen nach dem anderen reißt es hin. Auch ich
verfalle dieser Krankheit. Das Subjekt meiner Anbetung ist Nina Rokotowa aus der
obersten Klasse, Pädagogik-Vorstufe, mit einem dicken Zopf, der bis unter den
Gürtel reicht. Nina erscheint mir als ein überirdisches Wesen. In der Pause
wandeln die Schülerinnen untergehakt den Korridor entlang. Ich versuche so zu
gehen, dass ich unmittelbar hinter ihr bin. Vor meiner Nase baumelt ihr Zopf,
in den eine weiße Seidenschleife gebunden ist. Nina erörtert mit ihrer Freundin
die Schlägerei auf der Eisbahn. Das ist Schulgespräch: Ihretwegen haben zwei
Achtklässler des Knabengymnasiums sich duelliert, sind mit den Schlittschuhen
aufeinander losgegangen! Mischka, die zu der Zeit auf der Eisbahn war und darum
Augenzeugin des Geschehens, hat erzählt, dass man die Streithähne schon beinahe
getrennt hatte, als es dem einem doch noch gelang, dem anderen mit der Kufe
seines Schuhs die Wange aufzuschlitzen, es floss viel Blut, der Schüler wurde
ohnmächtig ins Krankenhaus transportiert. Und alles nur wegen der Liebe! Zu
ihr, meiner Nina! Ich laufe ganz dicht auf, erhasche das Ende ihres schweren
Zopfes, küsse es. Nina erlaubt sonst niemandem, ihr Haar zu berühren - nur mir
allein!
Die ganze
Welt ist verliebt, so kommt es mir vor. Alle Mädchen im Gymnasium sowieso.
Auch meine Schwestern. Katja frönt - anhand von Bildpostkarten - der Liebe zum
Flieger Kusnezow, welcher in seiner Bleriot - leicht wie ein Schmetterling, so
stand es in den Zeitungen - am Himmel schwebt. Mein Bruder Sascha ist gegen
Kusnezow und für Haber-Wlyhski und seine Farman. Die Standpunkte werden
leidenschaftlich verteidigt, Tränen fließen. Als Kusnezow ein Schaufliegen in
Rostow veranstaltet, kommt es zum Massenauflauf. Die ganze Stadt strömt auf das
Flugfeld hinterm Balabanow-Park. Auf der Skobelewskaja ist kein Durchkommen,
auch nicht auf der Gimnasitscheskaja. Alle Plätze innerhalb des umzäunten
Versuchsgeländes, für die man bezahlen muss, sind restlos gefüllt, Schaulustige
in dichter, regloser Menge umlagern den Zaun, die Leute hängen an den Toren,
hocken auf den Dächern, drängen sich auf den Balkons. Dem Publikum wird bekannt
gegeben,
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