Schischkin, Michail
das Recht heraus, auf alle Mädchen
in der Klasse mit armseligem rosa Löschpapier verächtlich herabzublicken. Das
betrifft zum Beispiel meine Banknachbarin, ein gold gelocktes Mädchen mit
breiter Nase. Die hatte einmal Krylows Fabel von den beiden Hunden - Hektor,
»des Hauses treuer Hüter«, und Joujou, »ein Bologneser, der ihm wohlbekannt« -
so ausdrucksvoll vorgetragen, dass ihrer über die Augen wuchernden
Lockenpracht wegen der Name Joujou an ihr hängen blieb. Ich weiß noch, wie ich
ihr gnädig ein Blatt »anständiges« Löschpapier überließ und wie sie deswegen
bitterlich zu weinen anfing.
Während es
mir heute, nach allem, was war, fantastisch vorkommt, geradezu märchenhaft,
dass irgendwelche idiotischen Löschblätter einem das Leben vergällen konnten!
Joujou
muss kein Schulgeld bezahlen, weil ihre Mutter arm ist. Alle wissen über sie,
dass kein Vater im Haus ist, weil die Mutter von Jugend an Gouvernante bei
diversen Herrschaften war.
Befreundet
bin ich mit Mila, die von allen Mischka genannt wird. Ich mag sie ihrer
Waghalsigkeit wegen. Mischka möchte Schiffskapitän oder Afrikaforscher werden,
und in der Kirche schlägt sie ausschließlich für Seefahrer und Weltreisende
ihr Kreuz. Alles an ihr gefällt mir, sogar das tintenbeschmierte Lineal. Im
Vorraum zur Toilette neben den Waschbecken hängt hoch unter der Decke eine
Stange mit einem langen, zur Schlaufe zusammengenähten Handtuch, an dem man
ziehen muss, um sich abzutrocknen. Mischka krallt sich daran fest und schaukelt
im Kreis wie an einem Laufkarussell auf dem Jahrmarkt. Wahrscheinlich war sie
federleicht, sonst hätte die Stange nicht gehalten.
In der
großen Pause in der Aula renne ich Mischka hinterher, das Parkett ist glatt wie
eine Schlitterbahn. Ich pralle gegen den Flügel, verliere das Bewusstsein und
komme erst im Kabinett der Schuldirektorin Sinaida Georgijewna Schirjajewa
wieder zu mir. Sie klatscht mir etwas Nasses, Ekliges gegen die Schläfen, man
kann gar nicht anders, als zur Besinnung zu kommen. Vor der Direktorin fürchten
sich alle. Ihre trockenen Lippen küssen mich. 1920 wird sie an Cholera sterben.
Die
Verhältnisse in der Klasse sind nicht leicht zu durchschauen. Ich schreibe
Natascha Martjanowna, die von allen geliebt und Tala genannt wird, einen
Zettel: Liebes Talalein, lass mich deine Freundin sein. Die
Antwort klingt verwundert: Ob ich denn nicht wisse, dass Tusja ihre Freundin
sei? Ich hasse Tusja. Sie ist feige und überhaupt ganz abscheulich, außerdem
kurzsichtig. Sitzt in der ersten Reihe und kann trotzdem nichts erkennen.
Brillen waren zu der Zeit eine große Seltenheit, und sie fürchtete verspottet
zu werden. Erst nach eindringlichen Ermahnungen der Schulleitung erscheint sie
zum Unterricht mit einer Brille, die sie noch hässlicher macht.
Eine
weitere Freundin ist Ljalja. Ihr wachsen große braune Augen. Sie ist die
Schönste in der Klasse, alle beneiden sie. Außerdem ist sie vom Morgengebet
und vom Religionsunterricht befreit.
Jede
Klasse steht in der Kirche an ihrem angestammten Platz - die Jüngeren vorn, die
Älteren hinten, das Aufrücken in eine höhere Klassenstufe zieht einen
Platzwechsel in der Kirche nach sich. Neben jeder Klasse stehen ein paar
Stühle, auf die die Schwächeren unter uns von den Anstandsdamen gesetzt werden
und ein bisschen ausruhen können, denn der Gottesdienst ist lang. Die
Freundinnen behaupten, in einem bestimmten Moment der Liturgie, nachdem der
Priester etwas ganz Bestimmtes gesagt hat, könne man sich heimlich etwas
wünschen, und der Wunsch gehe in Erfüllung. Alle stehen und warten, keine
möchte die Worte verpassen, um im rechten Moment den heimlichen Wunsch zu
denken.
Könnte man
diese Wünsche heute einsammeln und erfüllen!
Den
Religionsunterricht erteilt Vater Konstantin Moltschanow. Er ist ein kundiger
und passionierter Bienenzüchter. Listige Mädchen wissen, wie man in der Stunde
ganz beiläufig etwas über Bienen, Bienenwaben oder Bienenlarven fragt, und er
erzählt und lässt sich hinreißen, den Rest der Stunde dem Wunder der Biene zu
widmen. Beim Klingelzeichen schaut er ertappt, beschwichtigt sich aber selbst
sehr schnell mit dem Gedanken, dass Bienen ja schließlich auch Gottes Geschöpfe
seien.
Einmal
spricht er von der Auferstehung der Toten, und Mischka stellt ihm eine Frage,
die alle verblüfft: Wie können wir von den Toten auferstehen, wenn unsere
Leiber doch von den Würmern gefressen werden und die Würmer von den Vögeln,
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