Schischkin, Michail
Die unschöne Narbe bleibt Mascha ein Leben lang.
Bruder
Sascha kann über unsere Liebeleien nur lachen, doch auch er ist verliebt, und
zwar unglücklich. Er schreibt jemandem Briefe. Wenn er sich manchmal über
Frauen äußert, geschieht das von oben herab, mit Verachtung. Ich spüre, dass er
etwas weiß, wovon wir keine Ahnung haben. Ich traue mich nicht, ihn danach zu
fragen. Sehe nur, dass Papa ihm hin und wieder verstohlen, sodass Mama es nicht
sieht, drei Rubel zusteckt.
Auch
Njusja ist verliebt, sie hat sogar schon einen Bräutigam, ihren Kolja, aber
fast keine Zeit, sich mit ihm zu treffen, denn sie übt stundenlang Klavier.
Njusja ist der Stolz und die Hoffnung der Familie, fährt sie doch zum Studium
nach Petersburg, ans Konservatorium, und wird mit Sicherheit einmal eine
weltberühmte Pianistin werden. Die Einzige, die daran zweifelt, ist wohl sie
selbst.
Ich
musiziere zu Hause. Mal gibt Mama mir Stunden, mal Njusja, ganz unsystematisch.
Njusja schlägt die Klavierschule von Franz Hunten auf, fängt an, mir das
Notensystem zu erklären, wird es aber bald leid, die Lehrerin zu spielen, und
übergibt an Mama - nicht ohne zuvor noch mit dem gehässigen Verdikt, eine
Konzertpianistin werde sowieso nicht aus mir, schon wegen der kleinen Hände
(ich greife mit Mühe eine Oktave), Tränen zu verursachen. Auf die richtige
Handhaltung achtet bei mir niemand, ich strenge mich an, mit meinen schwachen
Fingern möglichst laute Töne zu produzieren, Mama lobt meinen »Anschlag«. In
Wirklichkeit sind derlei Lektionen für meine Klavierhand fatal, aber das Lernen
macht mir Freude, und kaum habe ich den Bassschlüssel kapiert, beginne ich
selbstständig, Liedchen in Akkorde zu zerlegen.
Eines
Tages kommt die Königin zum Gastspiel nach Rostow. Nicht die von Spanien, nein,
die einzig wahre: die Wjalzewa. Alles spricht von ihr. In der Schule wird über
sie erzählt, die Knöpfe an ihren schicken hohen Schuhen seien Brillanten. Mein
Bruder Sascha, der ihr mit seinen Kameraden vor dem Hotelausgang am Taganroger
Prospekt auflauert, berichtet, sie habe Autogrammkarten in die Menge geworfen
und sei dem ausbrechenden Tumult gerade so entkommen. Vater erzählt beim
Abendbrot, in jeder Universitäts- oder Hochschulstadt, wo sie gastiere, gehe
die Wjalzewa zum Rektor und wolle wissen, wer von den Studenten sein Hörgeld
schulde, dem schreibe sie einen Scheck aus. Auch auf dem hiesigen, von den
Stadtvätern ihr zu Ehren ausgerichteten Empfang habe sie gefragt, wo man denn
in Rostow studiere. »Aber bei uns gibt es ja dergleichen nicht!«, ereifert sich
Vater, schmeißt gar die Gabel auf den Tisch dabei. »Absolut nichts! Schwarzes
Loch!«
Mama
bleibt kühl. »Ein Zimmermädchen!«, macht sie die Herkunft der
»Unvergleichlichen« verächtlich.
Alle am
Tisch protestieren, am lautesten ich. Endlos lassen meine Schwestern und ich zu
Hause die Schallplatten mit den Aufnahmen der Wjalzewa laufen. Ich kann ihr
ganzes Repertoire auswendig singen.
Papa geht
zum Konzert der Wjalzewa ins Asmolow-Theater und kann nur einen von uns
mitnehmen, er hat nur zwei Karten. Wir ziehen das Los. Das Glück aus Saschas
Mütze... es ist mir hold! Ich schlafe die ganze Nacht nicht und quäle mich
durch den Tag, kann den Abend nicht erwarten. Schließlich sitzen wir im
überfüllten Theater. Ausverkauft bis auf den letzten Platz! Mal frenetisch
applaudierend, mal atemlos der göttlichen Stimme lauschend, liegt der Saal ihr
zu Füßen. Wir haben gute Plätze, trotzdem kann ich das Gesicht der Wjalzewa
nicht recht erkennen - der Tränen wegen, die mir aus den Augen strömen. Ich
giere nach jedem Augenblick: jeder Geste, jeder Pose, wie sie sich verbeugt,
den Beifallssturm über sich ergehen lässt. Die Luft ist wie ein Schwamm so
vollgesogen mit Hingabe und Verehrung für die »Unvergleichliche«. Huldvoll
nimmt die Königin die Liebesbekundungen entgegen. Lässt es zu, dass man sie
liebt. Ich schaue Papa an, sehe das Glühen in seinen Augen. Und weiß von Stund
an alles über mich. Beim Einschlafen stelle ich mir den Tag vor, da ich meinen
Namen in Großbuchstaben an den Plakatsäulen prangen sehe, und schlafe glücklich
ein.
In der
Nikitskaja, wo wir wohnen, liegt der Seiteneingang zum Freilichttheater
Palermo, das im Sommer Gartenkonzerte veranstaltet, der Haupteingang liegt um
die Ecke. Hier gastieren Königinnen von etwas niedererem Rang: Nina Tarassowa,
Marija Judina, Jekaterina Jurowskaja. Wir bohren ein Loch in den Zaun und sind
ganz Ohr. Das
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