Schischkin, Michail
heißt, ich sehe auch aufmerksam hin und präge mir ein, was ich zu
der Zeit für die Hauptsache halte: Wie verbeugt man sich vor den Leuten, wenn
diese begeistert applaudieren? Zu Hause vor dem Spiegel übe ich alle möglichen
Varianten. Einmal gehe ich über den Kirchplatz und erschrecke, da plötzlich
Beifall aufbrandet: Es ist ein Taubenschwarm, aufgescheucht von einer
vorüberfahrenden Kalesche. Mich überkommt ein unerhörtes Glücksgefühl, so
sicher bin ich mir auf einmal, dass alles genauso kommen wird - die von Blumen
überhäufte Bühne, die Ovationen, die Vorhänge. Dankbar verneige ich mich vor
den Tauben.
Papa kauft
Schallplatten. Wir Mädchen lassen alles stehen und liegen, drehen wie im Fieber
die Kurbel des Grammofons, lauschen wieder und wieder den geliebten Stimmen,
bis Mama über Kopfschmerzen klagt. Wenn das Grammofon schweigt, dann singe ich.
Kann einfach nicht anders - da doch alles in mir singt und will heraus!
Nach
Möglichkeit verpassen wir kein einziges Konzert im Palermo. Tagsüber gibt es
dort viele Fliegen und abends Mücken, das Publikum wedelt die ganze Zeit, und
auch der Dirigent scheint sich mit seinem Stöckchen der aufdringlichen
Blutsauger erwehren zu wollen. In der Pause verlassen die Männer den Pavillon,
um zu rauchen, die Damen sowie Kinder in Begleitung ihrer Muttis und
Gouvernanten stehen vor der Toilette Schlange. Ich betrachte sie alle und denke:
Noch wissen sie nichts von mir. Ich aber trage sie schon im Herzen. Und das
nicht, weil auch sie mich einmal lieben werden, nein: einfach so. Ich liebe
sie, und basta.
Das
Vergangene ist nicht mehr da, aber wenn man es erzählt, kann man die Wörter über
Tage dehnen oder umgekehrt ganze Jahre in eine Handvoll Buchstaben stopfen.
Mit dem
Versetzungszeugnis in der Tasche komme ich glücklich und stolz nach Hause.
Gleich
noch einmal: Versetzungszeugnis!
Und noch
einmal...
Erinnerungen
sind undatiert, ohne Zeit und Alter. Zum Beispiel erinnere ich mich, wie meine
Freundin, die schöne Ljalja, mir das Küssen beibringt. Anstatt Hausaufgaben zu
machen und auszurechnen, wie viel Tuch ein Kaufmann abschneiden muss, der
anscheinend von alleine nicht drauf kommt, küssen wir uns, bis die Lippen
platzen. Ich wüsste gar zu gern, von wem Ljalja diese Fertigkeiten hat, sie
schweigt sich darüber aus. Am Ende beichtet sie doch: von ihrer Cousine in den
Weihnachtsferien. Was spielt es für eine Rolle, wann das gewesen ist, wie alt
ich war, in welcher Klasse, welchem Jahrhundert, auf welchem Planeten! Wichtig
ist nur, dass ich alles vor mir sehe, als wäre es jetzt: Ljalja neben mir auf
dem Sofa, ein besonderer Anblick im Licht der tief stehenden Sonne, alles an
ihr ist orange, sie versucht sich mit dem Taschentuch einen Tintenfleck von der
Hand zu reiben, das Tuch ist in dem Abendlicht auch orange, jetzt kommt aber
noch Violett hinzu, von der Tinte. Ljalja befeuchtet das Tuch mit Spucke,
verreibt den Fleck, spuckt wieder und reibt, nun sind auch Lippen und Zunge
tintenschwarz. Und nichts wird die Tinte je von ihren Lippen wischen können -
weder die Zeit noch der Tod.
Schließlich
verliebe ich mich zum ersten Mal »richtig«, in einen erwachsenen Mann. Genauer
gesagt in sein Foto, das ich im Ogonjok gesehen
habe, mit der Unterschrift: Fürst Jussupow, Graf Sumarokow-Elston - in weißen Hosen, mit einem Tennisschläger in der Hand und
strahlendem Lächeln. Ich spüre auf den ersten Blick: Das ist er, mein
Auserwählter, mein Ritter. Das Schicksal wird dafür sorgen, dass wir uns
begegnen, dessen bin ich mir sicher. Wie und wann, ist ganz egal. Das Schicksal
wird es einzurichten wissen, es führt uns zusammen, treibt uns einander
unweigerlich in die Arme. Im Schulbuch gibt es eine Zeichnung: Zwei Achtergespanne
sollen die Magdeburger Halbkugeln auseinanderzerren, die nicht verschraubt
sind, nur die Luft ist zwischen ihnen herausgepumpt. Der Kutscher peitscht
mächtig auf die Pferde ein, aber die Halbkugeln kleben wie Pech und Schwefel
aneinander, nichts kann sie trennen. Solch eine Liebe wird zwischen uns sein,
das weiß ich. Keine Kraft auf Erden wird uns auseinanderreißen können.
Es gibt
auch welche, die verlieben sich in mich - doch welch ein himmelweiter
Unterschied zwischen diesen meinen Rostower Kavalieren und Fürst Jussupow,
Graf Sumarokow-Elston! Zum Beispiel stellen mir die Nasarow-Zwillinge aus dem
Stepanow-Gymnasium nach, zwei tumbe Feuerköpfe mit abstehenden Ohren. Sie
lassen niemanden auch nur in meine Nähe kommen.
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