Schismatrix
Liebster! Egal, was es ist, es kommt direkt auf uns zu.«
Dies war zwar nicht die Art und Weise, wie Lindsay sich seinen Tod gewünscht hätte, doch er war bereit, an Noras Seite zu bleiben. Also zog er sich die Schnürsenkelhosen über und stülpte sich einen Poncho über den Kopf.
»Keine Luftbewegung«, sagte sie, während er noch mit einem komplizierten Shaperknoten kämpfte. »Keine Dekompression.«
»Aber dann ist es ein Rettungstrupp! Die Mechs!«
Sie bewegten sich eilig durch die lichtschwächeren Tunnels auf die Luftschleuse zu.
Einer ihrer Retter - er mußte wirklich extrem mutig sein - hatte es fertiggebracht, seinen breiten Leib durch die Luftschleuse und in den Laderaum zu quetschen. Er zupfte mit betonter Geschäftigkeit an den riesigen vogelkrallenähnlichen Zehen seines Raumanzugs herum, als Lindsay aus der Mündung des Wartetunnels hervorspähte, wobei er sich vorsichtshalber die Augen bedeckte und blinzelte.
Das Alien trug auf dem Nasenkamm seines ausgehöhlten Weltraumfahrerhelmes einen starken Suchscheinwerfer. Das abgestrahlte Licht war so stark wie das eines Schweißbrenners: grell und von elektrischem Blau, mit starken UV-Beimischungen. Der Raumanzug war braungrau und übersät von Steckdosen und an den Gelenken mit Akkordeonpuffern versehen.
Das Licht wischte über sie hinweg, und Lindsay kniff die Augen zu und wandte das Gesicht ab. »Ihr könnt mich den Insignaten nennen«, sagte der Fremde in Handelsenglisch. Höflich begab er sich auf ihre Vertikalachse, indem er nach oben griff und auf die Fingerspitzen die Wand entlangging.
Lindsay legte die Hand auf Noras Unterarm. »Ich bin Abélard. Dies ist Nora«, sagte er.
»Wie geht es euch? Wir möchten gern über diesen Besitz hier sprechen.« Der Fremde griff in eine Seitentasche und holte einen Packen Papier heraus. Mit rascher, vogelhafter Bewegung schüttelte er das Gewebe aus, und es wurde zu einem TV-Gerät. Er drückte den Bildschirm an eine Wand. Lindsays argwöhnisch wachsamen Augen entging nicht, daß es auf dem Schirm keine Scanzeilen gab, sondern daß das TV-Bild sich vielmehr aus Millionen winziger farbiger Sechsecke aufbaute.
Das Bild zeigte ESSAIRS XII. Aus dem Abschußloch des Startrings ergoß sich eine Plastikschaumröhre, die mindestens einen halben Kilometer lang sein mußte. An der Spitze der wurmartigen Schlauchwindung befand sich ein grober Knubbel. Lindsay begriff geschockt, aber er unterdrückte dies sofort, daß es sich um Paolos steinerne Kopfbüste handeln müsse, die da hübsch eingerahmt in den blütenhaften Trümmern des Abschußkorbes hing. Die Gesamtmasse war einfach glatt und geschmeidig in die Leckageabsonderungen der Tarnproduktion eingebettet und danach unter hohem Druck in einem gewundenen Spiralbogen aus Plastikmaterial hinausgepreßt worden.
»Verstehe«, sagte Lindsay.
»Bist du der Künstler?«
»Ja«, sagte Lindsay und deutete auf den Bildschirm. »Bitte den raffinierten Schattierungseffekt zu bemerken, wo unser jüngster Beschuß die Skulptur etwas dunkler lasierte.«
»Wir haben die Explosion vermerkt«, sagte der Fremde. »Eine ungewöhnliche Kunsttechnik.«
»Wir sind eben ungewöhnlich«, antwortete Lindsay. »Wir sind einmalig.«
»Ganz meiner Meinung«, stimmte der Insignat höflich zu. »Wir bekommen nur selten Kunstwerke von diesem Kaliber zu sehen. Möchtet ihr mit uns über einen Ankauf verhandeln?«
Lindsay lächelte. »Schön, reden wir.«
ZWEITER TEIL
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Die Korporativ-Anarchie
5. Kapitel
Unter Paroxysmen trat die Welt in ein Neues Zeitalter. Die Außerirdischen ließen sich die Aura von Halbgöttern gefallen, mit denen man sie umgab. Das System bebte im chiliastischen Fieber, der eschatologischen Glut des Tausendjährigen Reiches. Die Detente, Entspannung, wurde zum Modebegriff. Und die Menschen begannen - zum erstenmal - von Schismatrix zu sprechen - von einem posthumanen Sonnensystem der Vielfältigkeit und dennoch einheitlichen Prägung, in dem Toleranz herrschen und jede Gruppe einen angemessenen Anteil erhalten sollte.
Die Aliens - sie selbst bezeichnen sich als »Investoren« - schienen über unbegrenzte Macht zu verfügen. Sie waren uralt, diese Außerirdischen, dermaßen alt, daß sie in ihrer Überlieferung nicht über die Zeit des Sternenflugs hinaus in die Vergangenheit zurückdachten. Ihre mächtigen Raumschiffe durchstreiften gewaltige Wirtschaftsgebiete, kauften und verkauften Waren im Handelsaustausch mit neunzehn weiteren intelligenten
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